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"Man hat ja nichts gewußt":
Der Holocaust im deutschen Familiengedächtnis

Im Familiengedächtnis erscheinen die Deutschen als Volk von Opfern - und der Holocaust als Randepisode der Geschichte

Von Magnus Klaue
Erschienen in: Konkret, Heft 11, November 2002

"Von den neuen Antennen kommen die alten Dummheiten. Die Wahrheiten aber werden von Mund zu Mund weitergegeben." Brechts Satz faßt eine Überzeugung zusammen, die noch immer in Teilen der Linken verbreitet ist. Die öffentliche Rede ist demnach vom "falschen Bewußtsein" durchtränkt, während die ungehörten Stimmen der "kleinen Leute" Medium historischer Wahrheit sind. Oral history erscheint so als ein Gegenentwurf zur offiziellen, schriftlich fixierten Geschichtsschreibung. Fast alle dissidenten Ansätze der Geschichtswissenschaft berufen sich in irgendeiner Form auf die angebliche Authentizität mündlicher, "lebendiger" Rede. Im Zuge der "Bewältigung" der NS-Vergangenheit ist das Konzept der Oral history seit den achtziger Jahren auch in Deutschland populär geworden. Seine Prämissen werden indes nur selten diskutiert. Die Gewißheit, daß hier "echte Menschen" als "Zeitzeugen" sprechen, scheint alle unbotmäßigen Nachfragen zu unterbinden.

Der Essener Historiker Harald Welzer hat nun eine Studie über die Präsenz von Nationalsozialismus und Holocaust im deutschen Familiengedächtnis vorgelegt, die das Konzept der Oral history vom Kopf auf die Füße stellt. Gerade die mündlich überlieferte "Geschichte von unten" erweist sich darin als Ort von Halbwahrheit, Heuchelei und Geschichtsfälschung. Welzers Studie beruht auf Interviews mit Deutschen der Großeltern-, Kinder- und Enkelgeneration und untersucht, wie im Familienkreis über die NS-Zeit geredet wird. Dabei geht es nicht, wie im psychoanalytischen Gespräch, um den latenten Gehalt des Gesagten, sondern um die Frage, "welche Wirksamkeit das Gesagte im Weitergabeprozeß entfaltet". Welzers Ergebnisse verdeutlichen die Schwächen der kognitivistischen Gedächtniskonzepte, die bis heute die Forschungsdiskussion beherrschen. Demgegenüber zeigt seine Studie, daß unterschieden werden muß zwischen dem in Schulen, Universitäten und Geschichtsbüchern tradierten "kognitiven Wissen" über die NS-Geschichte und der im Familienkreis überlieferten "emotionalen Erinnerung": "Metaphorisch gesprochen, existiert neben einem wissensbasierten ›Lexikon‹ der nationalsozialistischen Vergangenheit ein weiteres, emotional bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit: eines, zu dem konkrete Personen ebenso gehören wie Briefe, Fotos und persönliche Dokumente. Dieses ›Album‹ vom ›Dritten Reich‹ ist mit Krieg und Heldentum, Leiden und Opferschaft, Faszination und Größenphantasien bebildert, nicht, wie das ›Lexikon‹, mit Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung."

Das "Familienalbum", worin die Großväter als Widerstandskämpfer, die Großmütter als Beschützer von Juden und die Deutschen als Opfer "der Nazis" figurieren, ist gegen Fakten so resistent wie gegen immanente Widersprüche. So gelingt es mehreren Gesprächspartnern, zu versichern, man habe vom Holocaust "nichts gewußt", und im selben Atemzug zu behaupten, man habe Angst gehabt, "ins KZ zu kommen". Im Familiengedächtnis können historisches Wissen, biographische Erfahrung, Legendenbildung und Fiktion problemlos verschmelzen. Es bildet keinen kohärenten Diskurs, sondern besteht aus fragmentarischen, ihres Kontextes beraubten Anekdoten, die im privaten Gespräch "rekonfiguriert" werden. Zweck dieser Praxis ist die Konservierung eines über die Generationen hinweg gültigen Konzepts der "guten Familie".

Welzer beschreibt verschiedene Strategien, mit denen Familienangehörige ihre Verstrickung in die NS-Geschichte umdeuten. Zu den effizientesten zählt die mittlerweile auch im offiziellen Diskurs übliche "Wechselrahmung". Dabei werden "Merkmale aus Geschichten von Holocaust-Opfern für deutsche Leidensgeschichten in Anspruch genommen". Deutsche Soldaten werden von Russen "wie Kühe" in "Viehwagen" transportiert oder müssen sich zwecks "Selektion" in einer Reihe aufstellen. Ob diese Erinnerungen im Einzelfall auch eine Entsprechung in der Wirklichkeit haben, ist zweitrangig. Entscheidend ist die Ikonographie, in die die Interviewpartner ihre Erzählung einbetten. Sie verwenden Bilder aus Geschichten von Holocaust-Überlebenden und aus den Filmen der Alliierten nach Öffnung der Konzentrationslager, die dekontextualisiert und zu "Ikonen der Vernichtung" verdinglicht werden.

Der amerikanische Historiker Robert G. Moeller weist in einem Beitrag für einen von Brigitta Huhnke und Björn Krondorfer herausgegebenen Sammelband darauf hin, daß das Prinzip der Wechselrahmung schon unmittelbar nach Kriegsende in Selbstdarstellungen von "Vertriebenen" zur Anwendung kommt: "Die Berichte sind voll mit Geschichten über deutsche Frauen und Männer, die gezwungen worden seien, ihre Schädel zu rasieren oder das Hakenkreuz auf ihrer Kleidung zu tragen." Während die Judenvernichtung im deutschen Familiengedächtnis kaum präsent ist - wenn überhaupt, ist vom "Verschwinden" oder von der "Auswanderung" jüdischer Bekannter die Rede -, inszenieren sich die Deutschen in ihren biographischen Erzählungen als "Juden" und schreiben die Vernichtungsgeschichte fort, indem sie die Opfer ihrer spezifischen Erfahrung berauben. Gleichzeitig lebt das antisemitische Bild des "reichen Juden" im intergenerationellen Gespräch bruchlos weiter. Daß solche im Familiengedächtnis verankerten "Gewißheiten" dem historischen "Wissen" widersprechen, stellt für die Akteure, die an der Verfertigung ihres "Albums" mitwirken, kein Problem dar. Das Familiengedächtnis existiert gleichsam autark neben dem offiziellen, "politisch korrekten" Geschichtsbild.

Überhaupt hat Welzers Erkenntnissen zufolge die Schulbildung, die auf Vermittlung kognitiven Wissens setzt, geringen Einfluß auf das historische Bewußtsein der Individuen, das sich eher an emotionalen, privat überlieferten "Gewißheiten" orientiert. Deshalb dokumentieren die Ergebnisse der Studie nicht primär ein Versagen der Schule, sondern verweisen auf autoritäre Muster in der Binnenstruktur der Familie. Welzer zeigt, daß das Bedürfnis nach moralischer Reinwaschung bei den Enkeln am größten ist. Ambivalenzen, die in den Erzählungen der Großeltern noch zu Tage treten, werden im Bewußtsein der Enkelgeneration durchweg zum Bild der "guten Vorfahren" homogenisiert: "Opa war kein Nazi", darin sind sich alle einig - bundesdeutsche übrigens ebenso wie Ex-DDR-Familien. Mit dem Wissen darüber, "wie es wirklich war", steigt bei den gebildeten Angehörigen der jungen Generation offenbar sogar das Bedürfnis, die eigene Familie aus dem Schuldzusammenhang herauszulösen. Welzer bezeichnet diesen Prozeß als "kumulative Heroisierung".

Die Thesen der Essener Studie werden nicht nur durch die Interviews bestätigt. Vielmehr scheinen die Mechanismen des Familiengedächtnisses sich zunehmend in die Sphäre "offizieller" Erinnerung auszudehnen. Die Autobiographie des früheren "SZ"-Redakteurs Ulrich Frodien, der als Kriegsfreiwilliger bis 1944 an der Ostfront im Einsatz war, belegt dies. In ihrer Argumentation unterscheiden sich Frodiens Aufzeichnungen kaum von der selbstgefälligen Larmoyanz in den Tagebüchern der Hitler-Sekretärin Traudl Junge (siehe KONKRET 5/02). Gleich zu Beginn greift er den Topos der "Marionettenexistenz" auf, der auch Junges Apologie durchzieht: "Wir waren nur Figuren in einem Spiel, das von anderen, weit von uns entfernt, von unbekannten Spielern gespielt wurde." Wie bei Junge, kommen die "Verbrechen an den jüdischen Mitbürgern" nur als Episode vor. Überblendet werden sie vom "Krieg", der als eigentliche Katastrophe der Nazizeit erscheint. So war es nicht das Wissen über den Holocaust, sondern die Erfahrung der alliierten Bombenangriffe, durch die "ich der Pazifist wurde, der ich heute bin". Seine trotz allem unleugbare Verstrickung in das NS-System begründet Frodien mit "ideologischer Indoktrination": "Man hat uns unseren kritischen Verstand verkleistert." Frodien wie Junge beschreiben sich als Opfer, nicht als Akteure des Vernichtungsfeldzugs. Passend dazu findet sich in beiden Büchern ein Bildteil, worin Familienfotos neben Dokumentaraufnahmen aus der Nazizeit stehen - ein "Album", das historische Ereignisse (SA-Aufmärsche, Pogrome, Hitlerreden) zum Hintergrundmaterial der Familiengeschichte depotenziert, statt die Verwicklung der eigenen Familie in die NS-Zeit zu veranschaulichen.

Die Authentizität solcher "Erlebnisberichte" wird, wie Welzer zeigt, durch "Skripts" hergestellt, die den Eindruck von Wirklichkeitstreue narrativ erzeugen. Reminiszenzen an Romane und Filme wie "Die Brücke" oder "Des Teufels General" durchziehen die Erzählungen der Familienmitglieder leitmotivisch. Sie dienen als "Illustration" und "Beleg" der Erlebnisschilderungen - ein Phänomen, auf das auch die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch in einem Beitrag für einen von Volkhard Knigge und Norbert Frei edierten Sammelband hinweist. Topoi aus Nachkriegsfilmen oder Landsergeschichten werden verwendet, um Ambivalenzen der eigenen Biographie mit Hilfe eines kollektiv verbürgten "Narrativs" einzuebnen. Die "eigene Geschichte" folgt einem vorgestanzten Text, dessen Vertrautheit den Eindruck der Glaubwürdigkeit verstärkt. Oral history erweist sich somit als heteronome, von kulturindustriellen Klischees überformte Erinnerungspraxis.

Auch hierfür stellt die Flut an neuen Veröffentlichungen ein Beispiel bereit: Matthias Kesslers Interview mit Monika Göth, der Tochter des KZ-Kommandanten Amon Göth, der in "Schindlers Liste" vorkommt. Der erste Teil des Buchs wird durch Rückgriffe auf Spielbergs Film bestritten. Kein einziges Mal kommt Kessler, dessen Speichelleckerei ("Steh zu dir selbst! Du bist eine bewundernswerte Frau!") jede Distanz zum Gegenstand verhindert, auf die Idee, "Monika" zu fragen, welche Legitimität ein solcher Hollywood-Spielfilm ihrer Meinung nach habe. Statt dessen entwickeln Kessler und seine Patientin ("Hat das bei dir ein Trauma ausgelöst?") im Rückgriff auf den Film ihre Version historischer Wahrhaftigkeit: "Den Richard Burton als Schindler hätte ich besser gefunden." - "Manches an diesem Hollywood-Ding stimmt auch nicht." - "Eins hat er nicht gemacht: Er hat nie eine sexuell belästigt".

Zeigt Kesslers Buch, wie Vertreter verschiedener Generationen gemeinsam "ihre" Geschichte der NS-Zeit verfertigen, läßt sich am Briefwechsel Lilli Jahns, die, von ihrem Mann den Nazis ausgeliefert, zunächst in ein Arbeitslager und später nach Auschwitz deportiert worden ist, die Vereinnahmung einer jüdischen Biographie zum Zweck deutscher Selbstvergewisserung demonstrieren. "Alles, was in diesem Buch geschieht, ist wirklich geschehen. Und doch wird mancher Leser beim Lesen dieses Buches unwillkürlich an etwas Romanhaftes oder Filmhaftes denken", kauderwelscht Martin Walser in der "Süddeutschen Zeitung". Und lobt die Briefe, die Lilli mit ihren Töchtern gewechselt hat, als "Sprachdenkmal der Menschlichkeit", in dem wir "unsere Geschichte" erkennen. Zwischen Fiktion und dokumentarischem Zeugnis changiert das Projekt auch in den Selbstaussagen des Herausgebers, des Jahn-Enkels und "Spiegel"-Redakteurs Martin Doerry: "Je mehr ich mich in die Briefe vertiefte, desto mehr hatte ich den Eindruck: Da steckt eine ebenso spannende wie wichtige, erzählenswerte Geschichte drin." Zuvor seien ihm die Briefe seiner Großmutter jedoch "ebenso blaß wie unverständlich, ja rätselhaft" erschienen.

Deshalb hat er Briefe, historische Dokumente, Fotos und eigene Kommentare für die Veröffentlichung zu einem Kompendium verschränkt, das in der Tat "etwas Romanhaftes" hat. Alle Inkohärenzen, in denen sich die jüdische Vernichtungsgeschichte in den Briefen selbst sedimentiert hat, werden geglättet, um eine "spannende Geschichte" daraus zu machen, die auch Antisemiten goutieren können. Sie erzählt vom Schicksal einer "guten" Jüdin, deren assimilierte Familie das "ostjüdische Element" verachtete, die Hölderlin, Hegel und Ernst Jünger schätzte und einen reinrassigen Deutschen geliebt hat. Obwohl der Holocaust im Zentrum steht, werden seine Spuren durch Nivellierung des Materials doch wiederum getilgt. Er erscheint als persönliche Tragödie einer sympathischen Familie. Als solche kann ihn auch das deutsche Familiengedächtnis verdauen.

Literatur:

Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Fischer, Frankfurt/Main 2002, 247 Seiten, 10,90 Euro
Brigitta Huhnke/Björn Krondorfer (Hg.): Das Vermächtnis annehmen. Kulturelle und biographische Zugänge zum Holocaust. Psychosozial-Verlag, Gießen 2002, 368 Seiten, 19,90 Euro
Ulrich Frodien: "Bleib übrig". Eine Kriegsjugend in Deutschland. DTV, München 2002, 256 Seiten, 11,50 Euro
Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. C. H. Beck, München 2002, 450 Seiten, 24,90 Euro
Matthias Kessler: "Ich mußte doch meinen Vater lieben, oder?" Die Lebensgeschichte von Monika Göth, Tochter des KZ-Kommandanten aus "Schindlers Liste". Eichborn, Frankfurt/Main 2002, 254 Seiten, 19,90 Euro
Martin Doerry: "Mein verwundetes Herz". Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944. DVA, Stuttgart/München 2002, 351 Seiten, 24,90 Euro

Magnus Klaue rezensierte in LITERATUR KONKRET 2002 "Krieg der Bilder - Bilder des Krieges" von Georg Seeßlen und Markus Metz

hagalil.com 30-10-02


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