Ein Jude, der ewige
Pole
Die doppelte Identität von Arnold
Mostowicz
Von Joanna Podgórska
Erschienen in der polnischen Wochenzeitung "Politika" Nr. 14 (2292), 7.
April 2001
Es gibt so was wie eine polnisch-jüdische "Besonderheit", die bewirkt, dass die
Antwort auf die Frage: Wer bin ich? in verschiedenen Momenten der Geschichte
anders lautet – sagt Arnold Mostowicz, Arzt im Lodzer Ghetto, Journalist,
Schriftsteller, der "ein polnischer Däniken" genannt wird und heute Vorsitzender
des Vereins der jüdischen Kombattanten ist. Der Krieg brach für ihn zwei mal
aus: Hitler erklärte ihn gegen Polen und gegen Juden. Mal akzeptierte Polen
seinen Patriotismus, mal warf es ihm Fremdheit vor.
- Diese doppelte Identität, das ist ein Problem, mit dem jeder Pole jüdischer
Abstammung lebt. Und besonders der auf polnisch schreibende Autor – sagt Arnold
Mostowicz. - So was gibt es nirgendwo anders. Proust überlegte nicht, ob er Jude
oder Franzose war. Damit rang aber Julian Tuwim, der sein Leben lang sich für
einen Polen hielt, der sogar antisemitische Kurzgedichte schrieb, der aber
während der Besatzung den Appell "Wir polnischen Juden" schuf. Oder Artur Szyk,
Miniaturmaler und Illustrator, der mit dem Kreis von Pilsudski eng verbunden
war. Als er erfahren hatte, dass die Legionäre in Lemberg (Lwów) einen
Judenpogrom verursachten, gab er seine polnische Staatsbürgerschaft auf. Als
1920 die "Bolschewiki" Polen überfielen, nahm er sie jedoch wieder an. Nicht für
nur einen Moment habe ich aufgehört, mich für einen Polen zu halten und mich als
ein Pole zu fühlen. Gleichzeitig habe ich nie meine Herkunft negiert. Vielleicht
habe ich sie manchmal zu schwach hervorgehoben.
Arnold Mostowicz wurde in Lodz 1914 geboren. Die Familie seines
Vaters stammte aus Krosniewice, nahe Kutno, sie war mit dem
chassidischen Milieu verbunden. Sein Großvater studierte sein
Leben lang den Talmud. Die Familie ernährte die Großmutter, die
einen kleinen Gemüsestand führte. Der Vater von Mostowicz, das
jüngste von den acht Geschwistern, versuchte wie viele seiner
Generation die enge Welt der Schtetl – der kleinen, armen,
jüdischen, orthodoxen Städtchen zu verlassen. Nach Lodz – in das
damalige gelobte Land – ging er zu Fuß. Anfangs war er ein Bote
bei dem bekannten lodzer Kaufmann, Zachariasz Warszawski.
Später avancierte er zum
Commis. Wie ein Protagonist aus einer positivistischen Erzählung
wohnte er im kleinen Lager des Ladens und nachts lernte er, um
das russische Abitur als Externschüler zu bestehen. Später
reiste er nach Warschau, um dort Jura zu studieren. Dort
gelangte er in literarische Kreise, die sich um Perec
versammelten, er engagierte sich fürs Theater, schrieb, spielte,
führte Regie. Er reiste durch Polen mit dem bekannten
Schriftsteller Szolem Alejchem und trug seine Stücke im Rahmen
von Autorentreffen vor. Nach Lodz kehrte er zurück, verlobt mit
der Tochter eines reichen Wundarztes. Um die Familie zu
ernähren, gründete er einen kleinen Laden mit Manufaktur. Er
hatte jedoch keine gute Hand für den Handel und ein paar Jahre
später ging sein Laden Pleite. Er arbeitete wieder als
Angestellter, seine ganze Freizeit widmete er dem Theater.
Warum kam ich zurück?
- Mein Vater holte seine ganze Familie
aus Krosniewice nach Lodz – erinnert sich Mostowicz. – Einer der Onkel wurde ein
Buchhalter, der andere lernte, wie man professionell bügelt, die Tanten
arbeiteten als Schneiderinnen. Ich erinnere mich an das Haus meiner Großmutter,
in dem man nur jiddisch sprach und während der Familientreffen man hauptsächlich
Erbsen mit Pfeffer als Hauptgericht ass. Andererseits, die Familie meiner Mutter
war fast vollständig polonisiert. Ihr Bruder trat sogar der katholischen Kirche
bei. Auch bei uns zu Hause sprach man Polnisch. Meine Kollegen waren zu 90%
Juden, aber assimilierte Juden.
Lodz war damals multikulturell, trotzdem
spürte man den Jahr für Jahr wachsenden Antisemitismus. Diese Situation war
spezifisch: da die Mehrheit der Fabrikbesitzer Juden waren, war der Kampf der
Arbeiter um höheres Gehalt ein Kampf gegen Juden. Die Arbeiter hier waren
besonders nationalistisch. Ich hatte Glück gehabt, da ich es nicht an der
eigenen Haut zu spüren bekam, aber viele meiner Kollegen wurden Opfer von
Angriffen und Schlägereien. Eines wusste ich ganz genau: Während der
Fronleichnamprozession oder anderer katholischen Feiertage darf ein jüdisches
Kind auf gar keinen Fall auf die Straße gehen. Das ist ein anderes Merkmal des
polnischen Antisemitismus: Er ist katholisch. Es genügt hier, die Vergiftung der
Seelen durch die boshaften antijüdischen Zeitungen "Maly Dziennik" und "Rycerz
Niepokalanej" zu erwähnen. Sie wurden von Vater Maximilian Kolbe herausgegeben.
Aber davon wird hier nicht gesprochen, da er ein Heiliger ist.
Dieses graue, steinerne und xenophobe Lodz in der Zeit zwischen den beiden
Kriegen wurde in seinen Erinnerungen verschönert. Lodz widmete Mostowicz zwei
Bücher: "Ballade über den blinden Max" – eine Geschichte über den Chef der
lodzer Dintojra, über einen jüdischen Robin Hood, der vor dem Krieg die
Verbrecherwelt regierte, und eine Erinnerungssammlung "Lodz, meine verbotene
Liebe". Aber an die Welt des jüdischen Lodzs kann man sich nicht ohne das
Bewusstsein entsinnen, dass diese Welt schon verurteilt war. Die ganze Zeit hört
man das Uhrticken: 1927, 1931, 1935.
Noch vier Jahre, noch zwei, bis diese Welt
mit dem Stacheldraht umzäunt werden wird, bis sie verhungert oder nach Auschwitz
deportiert werden wird. Alle diese Geschichten werden das gleiche Ende haben:
die Armen und die Reichen, Diebe und Gestohlenen, die Geliebten und die
Verratenen, sie alle werden sich im Ghetto im Baluty treffen. Arnold Mostowicz,
Arzt im Ghettonotdienst, quittierte mit eigener Unterschrift den Tod dieser
Welt, indem er die Sterbekarteien ausfüllte. Die erste Kartei füllte er für
Zachariasz Warszawski, den Lodzer Kaufmann, bei dem sein Vater angefangen hatte,
aus. Die nächste für Teodor Ryder, einen Dirigenten des symphonischen
Orchesters, das in dem Park in Helenów spielte. In dem Park spielte er auch, als
Kind.
Dann unterschrieb er die Todesurkunden, auf
denen sein eigener Nachname stand: für den Onkel – Buchhalter, für dessen Frau
und Tochter – Lehrerin für polnische Sprache, für den Onkel – Fachmann für
Regenschirme und für seine ganze Familie. "Die Schwestern von meinem Vater
starben. Die jüngste mit ihrem wahnsinnig gewordenen Ehemann und mit ihrem Sohn.
Und die zweite Schwester von meinem Vater mit ihrem Mann und drei Kindern. Sie
starben bettelnd auf der Straße. Am längsten zog sich das Sterben von sechs
Enkeln von Vaters ältester Schwester hin... All denen stellte ich die
Todesurkunde aus. Aus der ganzen Krosniewicer Familie bin ich ganz alleine übrig
geblieben" – schrieb er Jahre später.
Warum kam er zurück? –
das ist eine der Fragen, die eigentlich beleidigend klingen. Die
zweite Hälfte der 30er Jahre verbrachte er in Frankreich. Er
studierte dort Medizin. Ein Jude hatte keine Chance, an einer
polnischen Hochschule Medizin zu studieren. In Europa gärte es
schon und Frankreich war unbestritten viel sicherer als andere
Länder. Im Juli 1939 fuhr er nach Polen.
-Ich war
absolut sicher, dass der Krieg ausbricht – erzählt er. – Es ist kein
Rückblick aus der Zeitperspektive. Meine an die Freunde in Frankreich im
August geschriebenen Briefe unterschrieb ich: zukünftiger – ehemaliger
Kombattant. Warum kam ich zurück? Damals dachte ich darüber nicht nach. Ich
erklärte es nicht mit Patriotismus oder moralischer Verpflichtung. Ganz
einfach: man musste die polnischen Grenzen und die Unabhängigkeit
verteidigen. Das war klar, dass ich zurück muss, obwohl mich manche für
verrückt hielten.
In dem
1993 herausgegebenen, auf autobiographischen Motiven basierenden Buch "Liebe mit
einem Verrückten im Hintergrund" analysierte er seine Entscheidung
zurückzukehren. In dem Buch beschrieb er seine Erfahrungen, die ihn lehrten,
dass ihm als Juden immer Mangel an Patriotismus vorgeworfen werden kann. "Es war
schon immer so, dass wir Juden unseren Patriotismus immer rechtfertigen müssen"
– schrieb er.
Zwei Kriege Das polnische Militär wollte
ihn nicht haben. Die Juden wurden nicht eingezogen. Den Ausbruch des Krieges
erlebte er in Lodz. Als am 6. September 1939 der Oberst Umiastowski über einen
Radiosender aufrief, alle jungen verteidigungsfähigen Männer sollten Richtung
Osten gehen, da hinter der Weichsel eine Gruppierung gebildet werde, packte er
zwei Hemden ein, ein Glas hausgemachter Marmelade, ein Band Gedichte von Tuwim
und ging zu Fuß nach Warschau. Er meldete sich beim ersten Sanitätspunkt als
Arzt. Die gesamte Zeit der Belagerung der Hauptstadt arbeitete er im
"Kind-Jesu-Krankenhaus", in dem Opfer der deutschen Luftangriffe behandelt
wurden. Auf Warschau fielen Bomben und die Ärzte, mit denen er arbeitete, wurden
oft gefragt, warum sie mit einem Juden durch das Krankenhaus spazierten. "Die
Niederlage Polens hat den Leuten nichts beigebracht, nicht mal ein bisschen
Bescheidenheit" – schrieb er später in "Liebe mit einem Verrückten im
Hintergrund".
Am 13. und 14. September, an dem Tag des Festes anlässlich des
jüdischen Neuen Jahres, bombardierten die Deutschen besonders
hartnäckig das jüdische Viertel. Ins Krankenhaus kamen LKWs,
einer nach dem anderen, beladen mit menschlichem Fleisch. Man
konnte die Lebendigen von den Toten kaum trennen. In dem Moment
verstand er, dass gegen ihn zwei Kriege erklärt wurden.
Als Warschau kapitulierte, kam er nach Lodz zurück. Dort
arbeitete er auch als Arzt im Rettungsdienst. Er blieb alleine,
seine Eltern mussten nach Warschau fliehen. Sein Vater war in
Lodz eine bekannte Persönlichkeit, er wäre bestimmt als einer
der ersten erschossen worden. Jedoch ist er seinem Schicksal
nicht entgangen. In Warschau wurde er im Juni 1942 aus dem
Ghettotheater während der ersten Liquidierungsaktionen abgeholt.
Er kam in Treblinka um. Seine Mutter wahrscheinlich auch, den
genaueren Ort und die genaue Zeit konnte man nicht feststellen.
Nichts blieb ihm von ihnen. Nicht ein kleiner Gegenstand, nicht
ein kleiner Fetzen Papier. Als er vor ein paar Jahren in der von
Ida Kaminska in den USA herausgegebenen Enzyklopädie des
Jüdischen Theaters ein Foto von seinem Vater fand, fiel er aus
lauter Ergriffenheit ohnmächtig um. Heute ist die vergrößerte
Reproduktion des Fotos sein einziges Andenken an die Familie.
Im Lodzer Ghetto war er bis zum Schluss, bis zu dessen
Liquidierung 1944. Er überlebte Hunger, Typhus, die Absurdität
der Rettung der Kranken, die sowieso in den Krematorien in
Auschwitz in Rauch verwandelt wurden, er überlebte die völlige
Bewusstheit der Vernichtung und das Warten auf ein Wunder. Dann
kam Auschwitz und ein paar kleinere Arbeitslager: Jelenia Góra,
Cieplice, Erlenbusch.
Als der Krieg endete, wollte er nicht mehr Arzt sein. Da er die
zwei ersten Jahre seine Tuberkulose heilen musste, gab es für
ihn zuerst keine Arbeit.
Mein "Judengefühl"
Nach der Niederlage der Deutschen, die die Nuance der polnisch-jüdischen
Besonderheit nicht interessierte, ging er in die wiedergewonnenen Gebiete. – Was
meine Herkunft angeht, wurde ich für eine bestimmte Zeit in Ruhe gelassen, –
erinnert er sich. – Auf diesen Gebieten hatten Polen und Juden ein gemeinsames
Schicksal, zusammen erschließen sie das neue, postdeutsche Land. Von dem Pogrom
in Kielce habe ich später erfahren. Damals war das für mich ein Element des
Kriegs zwischen den Reaktionären und den Neuen, die nach Polen kamen. Das
antisemitische Ausmaß begriff ich erst nach Jahren.
In der kommunistischen Bewegung engagierte er sich schon in
Frankreich, daher fiel seine Entscheidung, in die Partei
einzutreten, gewissermaßen automatisch. Er wurde zum Sekretär
der Redaktion, dann zum Vertreter des Chefredakteurs in "Trybuna
Dolnoslaska". Später wirkte er bei der Schaffung der "Gazeta
Krakowska" mit. Er wurde jahrelang ihr Chef.
-Ich bedauere die Kontakte gar nicht – deklariert er – Stalinismus tat weh, aber
ich rechtfertigte ihn mit der Gewissheit, dass sich das für etwas Besseres
verändern muss. Und nach 1956 hat es sich verändert.
1955 zog er nach Warschau, da er dort zum Chefredakteur von
"Szpilki" vorgeschlagen wurde. Er arbeitete auch als Übersetzer
von unter anderem französischen Humoristen: Alfons Allai und
Camie. Er erarbeitete Anthologien des französischen und
russischen Humors.
- So wie ich mich im Jahre 1939 auf natürliche Weise als ein Pole bekannte und
mit gleichem Eifer wie jeder andere das Vaterland verteidigen wollte, so
bekannte ich mich im Jahre 1968 als Jude.
Aus der Zeitung "Szpilki" wurde er erst 1969 herausgeworfen,
vielleicht war er der letzte Leiter jüdischer Herkunft. Die
unmittelbare Ursache war eine Zeichnung von Eryk Lipinski. Der
Warschauer Stadtrat beschloss eine hohe Steuer für
Hundebesitzer. Auf der Zeichnung war ein Tisch zu sehen, unter
dem Tisch ein Hund mit einem Zettel: "Achtung, bissiger Mensch"
und am Tisch ein Beamter mit einem Gesicht, das zu sehr Gomulka
ähnelte.
Er wurde sofort rausgeschmissen und Chefredakteur der Zeitung wurde der Autor
der Zeichnung, Eryk Lipinski. Die Entscheidung wurde erst dann zurückgezogen,
als sie der Radiosender "Freies Europa" verspottet hatte.
Warum blieb ich?
Alle rundherum emigrierten: Bekannte,
Freunde, die ganze Gruppe, die mit der Widerstandsbewegung verbunden war,
diejenigen, die er noch aus dem Ghetto kannte, die Autoren, die "Die Chronik des
lodzer Ghetto" erarbeiteten. Zwei erste Bände wurden aus den Buchläden
zurückgezogen und der dritte, zum Drucken vorbereitete Band, wurde zerstört.
- Warum er nicht wegfuhr? – das ist eine der Fragen, die
beleidigend klingen könnten.
- In unserer Familie sprach man nie darüber – antwortet er. –
Dafür gibt es keine eindeutige, einfache Ursache. Ich bin zu
sehr mit der Sprache, Kultur und der Geschichte Polens und der
Geschichte von Juden in Polen verbunden. Hier auf dem Friedhof
in Powazki gibt es ein Grab von meinem Sohn, den wunderbaren,
begabten 15jährigen, den wir 1964 verloren hatten. Außerdem,
wenn ich emigriert wäre, hätte ich das getan, was sie von mir
erwartet hatten. Meiner Meinung nach war Moczar nur eine
Episode. Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass er die
Geschichte und das Bild von Polen gestalten würde.
Von "Szpilki" ging er zu der Monatszeitschrift "Ty i Ja", in der
viele von den Entlassenen landeten. Als die Zeitung aufgelöst
wurde, fing er an, wissenschaftliche Feuilletons zu schreiben.
Insgesamt wurden daraus drei Bände: "Die Biologie verändert die
Welt", "Die Biologie verändert den Menschen", "Die Biologie
verändert die Medizin".
In den 80er Jahren wurde er zum polnischen Däniken erklärt. Man
schärfte damals Rasierklingen in kleinen Pyramiden aus Pappe und
am Himmel suchte man fliegende Untertassen. "Wir aus dem All",
"Über diejenigen aus dem All", "Streit über die Söhne des
Himmels", das sind seine Bücher aus dem Bereich der
Paläoastronautik. Sie beschäftigt sich mit der Hypothese des
Einflusses, den intelligente Wesen auf die Zivilisation und
Geschichte der Erde ausüben.
- Ich glaube immer
noch daran. – sagt er. – Man soll nicht seine rationalistische
Überzeugung aufgeben und trotzdem annehmen, dass es viele
Erscheinungen gibt, die wir nicht erklären können. Die Vergangenheit
versteckt viele Geheimnisse vor uns. Das Bild von der Vergangenheit,
das von der traditionellen Wissenschaft geprägt wurde, ist mit
Sicherheit nicht richtig. Ich schreibe nicht mehr darüber, da der
Büchermarkt von der Literatur aus dem Westen überflutet wurde.
Die 70-er und
80-er Jahre waren eine Zeit, in der er wieder Ruhe hatte, was seine
Herkunft angeht. Die doppelte Identität war wie betäubt, sie verlangte
keine Manifestationen, keine Deklarationen. Sie wurde erst Ende der 80er
Jahre wieder wach. – In meinem Leben änderte sich nichts Konkretes, aber
auf ein Mal grübelte ich wieder über das Ghetto, die Erinnerungen wurden
wieder wach. – sagt er.
1991 war er
einer der Gründer der Vereinigung der jüdischen Kombattanten, später
engagierte er sich für die Arbeit der Stiftung Monumentum Judaicum Lodzense,
die sich mit der Erhaltung und Restauration des jüdischen Friedhofes in Lodz
befasste. Dort fand er die unzerstörten Macewa auf dem Grabstein von seinem
Großvater – dem Wundarzt. Er war Mitdrehbuchautor und Erzähler in dem
bekannten Film "Der Fotoamateur" über den Buchhalter des Lodzer Ghettos.
Identität im Dialog
-In einem Moment wurde mir klar, dass das
polnische Judentum keine Zukunft hat – erklärt er. – In zwei oder drei
Generationen werden die Juden eine kleine Religionsgemeinschaft bilden, eine
exotische Gemeinschaft wie die der Mohammedaner. Jetzt geht es darum, dass die
Erinnerung an die jüdische Anwesenheit in der polnischen Geschichte über den
Holocaust hinausgeht.
Die Erinnerung aus dem Ghetto und aus den
Lagern: extremer Hunger, die Armut, die Wandlung der Menschen in Bestien, das
sind Bilder aus den Kreisen der Hölle. Erst wenn man aus einer Perspektive
schaut, kann man die teuflischen Zahnräder der Holocaustmaschine erkennen. Von
innen sah er die Tausende einzelner Morde, von Außen sah er einen gigantischen
Mord an der Nation, der mit der Gleichgütigkeit der ganzen Welt begangen wurde.
Davon handelt sein wichtigstes Buch "Der blinde Max". Es ist, wie er selber
sagt, "ein Register von Sachen und Ereignissen, die unser herrliches Jahrhundert
herunterschluckte ohne zu ersticken. Sachen, über die man in Polen jahrelang
nicht sprechen durfte.
Indem er heute um das Recht für das jüdische Andenken und für die historische
Wahrheit kämpft, selbst bei einem so schwierigen Thema wie Jedwabne, indem er
offen über den polnischen Antisemitismus spricht, verteidigt er gleichzeitig
Polen vor den Anschuldigungen seitens der radikalen jüdischen Aktivisten aus
Israel und der Diaspora, die bereit sind, den polnischen Antisemitismus mit dem
nationalsozialistischen Massenmord gleichzusetzen. Er versucht, den Quellen
seiner doppelten Identität bei der Aufnahme eines Dialogs zu helfen.
- Wer bin ich heute? Mehr ein Jude oder mehr ein Pole? – überlegt er. – Ich weiß
es nicht. Ich fühle mich wie ein Patriot, und wie George Bernard Shaw zu sagen
pflegte: ein wahre Patriot ist derjenige, der mit seiner Heimat immer
unzufrieden ist.
Übersetzung: Magdalena Rensmann
haGalil onLine
21-05-2001 |