Radikalislamistischer
Antisemitismus:
Die Schoah ist Gegenwart
Der radikalislamistische Antisemitismus
ist zentraler Bestandteil einer Ideologie, die mehr und mehr um sich
greift - der Holocaust wird wieder zu einer Möglichkeit
Von Yehuda Bauer
Dass die Schoah ein Schlüsselereignis der
menschlichen Geschichte war, ist zu einer ziemlich weit verbreiteten
Weisheit geworden. Sie, die ohne jede Präzedenz war, ist selbst zu
einem Präzedenzfall geworden. Die Schlussfolgerung ist, dass die
Schoah sich wiederholen kann, nicht unbedingt nur gegen Juden,
obwohl das jüdische Volk anfällig ist, wieder die Rolle des Opfers
zu spielen. Nicht mit Deutschen als Täter - diese extremste Form des
Genozids kann von jeder beliebigen Gruppe gegen jede beliebige
andere verübt werden, mit Millionen oder Milliarden von untätigen
Zuschauern. Schoah ist also nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart,
und wer sich mit den Aussichten auf eine Zukunft beschäftigt, kann
sie nicht ignorieren.
Die Wiederholung des Massenmordes an den Juden
wird tatsächlich angestrebt - der Feind des totalitären Islamismus
ist der Westen, die christliche Welt, und seine Stoßkraft sind die
Juden. Der Nahostkonflikt hat bestimmt viel damit zu tun; auch
amerikanische Militärstützpunkte in Saudi-Arabien, dem heiligen Land
der heiligen Städte, sind für die Islamisten untragbar. Bin Laden
hat sich erst ziemlich spät an Palästina erinnert, aber Qutb und
andere maßgebende Ideologen haben schon vor ihm den
jüdisch-palästinensischen Konflikt als Casus Belli bezeichnet. Doch
die antijüdische genozidale Propaganda beschränkt sich keineswegs
auf Israel, denn Israel wird als der kollektive Jude gesehen, und
alle Juden der Welt werden als Feinde definiert. Eine ideologische
Unterscheidung zwischen Juden und Zionisten gibt es höchstens in
ganz abstrakter Form, während in der Propaganda, die in der
arabischen und islamischen Welt allgegenwärtig ist, ein solcher
Unterschied nicht mehr gemacht wird.
Es ist also genauso falsch, den
israelisch-palästinensischen Konflikt zu ignorieren wie ihn als die
Hauptursache für den Aufstieg des Islamismus zu sehen. Wenn jemand
glaubt, dass irgendeine Lösung des Nahostkonfliktes den radikalen
Islamismus beseitigen wird, so ist das eine gefährliche Illusion.
Allerdings muss der Konflikt durch einen Kompromiss gelöst werden,
weil Menschenleben in ihm im Namen von ideologischen Prinzipien
aufgeopfert werden, also um sich selbst willen. Die herrschenden
politischen Eliten auf beiden Seiten wollen ein Kompromiss nicht.
Der Konflikt erschwert den Kampf gegen den radikalen Islamismus, das
ist leider eine Tatsache.
Das alles hat sehr viel mit meinem Thema zu tun.
Im letzten Jahrhundert entwickelten sich drei ideologische
Bewegungen, die die Menschheitsgeschichte entscheidend beeinflusst
haben: der Nationalsozialismus, der stalinistische
Marxismus-Leninismus und der totalitäre, radikale Islamismus. Ich
brauche wohl kaum zu betonen, dass es große Unterschiede zwischen
diesen drei Ideologien gibt. Es gibt aber auch Parallelen, und die
möchte ich hervorheben. Erstens sind oder waren alle drei Religionen
oder Quasireligionen. Die Nazis hatten heilige Texte, an die man
bedingungslos zu glauben hatte; beim Marxismus-Leninismus ist das
noch klarer, vom heiligen Marx zur Sonne der Völker, Stalin, vom
Fabrikinhaber Friedrich Engels bis zum kurzen Kurs der
kommunistischen Partei. Der radikale Islamismus hat natürlich seine
absolut gültigen schriftlichen religiösen Autoritäten. Es existiert
noch ein Element, das, wenn auch in verschiedener Form, den drei
radikalen Ideologien gemeinsam ist - nämlich der Hass gegen die
Juden. Die Nazis wollten alle Juden auf der Welt vernichten. Der
Stalinismus wollte wenigstens die sowjetischen Juden nach Sibirien
verbannen, klarerweise unter Bedingungen die ein Massensterben
verursacht hätten. Der radikale Islamismus, das muss man scharf
betonen, spricht gegenüber den Juden die Sprache des Genozids, so
wie es die Nazis und unter Stalin die Kommunisten taten. Es scheint,
als hätten die Ideologen und die Propagandisten etwas von der Schoah
gelernt. Und wir haben gelernt, dass wenn Menschen an eine Ideologie
glauben und sie dauernd sich selbst und anderen einpauken, so wollen
sie auch wirklich das, was sie sagen, in die Tat umsetzen.
Die Juden heute, auch die großen jüdischen
Organisationen, befassen sich mit einer wirklichen und reellen
Gefahr, nämlich mit dem wachsenden, hauptsächlich intellektuellen,
und politischen Antisemitismus in Europa, Lateinamerika und auch
Nordamerika. Dieser Antisemitismus ist die vierte antisemitische
Welle in der westlichen Welt seit 1945. Völlig auf der Hand liegt
die Tatsache, dass der westliche Antisemitismus in letzter Linie
doch eine marginale Erscheinung ist. Keine demokratische Regierung
ist antisemitisch, und es besteht heute keine Gefahr, dass eine auf
dem Antisemitismus basierende Bewegung irgendwo in der westlichen
Welt die Macht erringt. Das kann sich natürlich ändern, aber
wenigstens heute ist das die Lage.
Doch der radikalislamistische Antisemitismus ist
ein zentraler Bestandteil einer Ideologie, die mehr und mehr um sich
greift, unter einer Riesenbevölkerung von circa 1,2 Milliarden
Muslimen, also ungefähr einem Fünftel der Menschheit. Niemand weiß
den radikalen Islamismus quantitativ zu schätzen, denn es gibt ja
keine Meinungsumfragen in Ländern wie Pakistan oder Indonesien und
Malaysia, von Saudi-Arabien ganz zu schweigen. Dass so etwas wie der
Holocaust wieder eine Möglichkeit geworden ist, verdanken wir dieser
hier skizzierten Entwicklung. Und unsere jüdischen Organisationen -
wie auch die israelische Regierung - bekämpfen tapfer den westlichen
Antisemitimus, der einem gefährlichen Skorpion gleicht, während
hinter ihnen ein Riese mit einer großen Keule steht und losschlagen
will.
Die Frage ist, ob ein künftiger Genozid verhindert
werden kann. Im Prinzip hat der demokratische, liberale Westen die
dafür nötige Macht. Große Monopole und Banken könnten vielleicht
langsam zur Erkenntnis kommen, dass ermordete Menschen keine Waren
kaufen und dass, wie die Schoah zeigte und wie es sich in Ruanda
wiederholte, das Aufräumen nach einem Genozid viel kostspieliger ist
als eine relativ leicht durchführbare Verhinderung. Wird das
Lebensniveau weltweit erhöht, wird auch dem katastrophalen
Bevölkerungszuwachs Einhalt geboten, und wieder: Waren werden
gekauft, wenn man es sich leisten kann. Das sind primitive,
elementare, Gedanken, die der moderne Kapitalismus aber
wahrscheinlich erst lernen muss. Es gibt möglicherweise Anzeichen
dafür, dass man wirklich anfängt zu begreifen. Dazu müssten gute
Menschen in den Demokratien erst einmal ganz entschlossen handeln,
um die notwendigen internationalen Werkzeuge zu schaffen, die
Massenmorde und Genozide verhindern können. Vielleicht, hoffentlich,
werden sie das tun. Hoffentlich kommen sie nicht zu spät. Vor einer
relativ kurzen Zeit gab es keine Menschen auf dieser blauen
Erdkugel. Wir müssten eigentlich alles daran setzen, damit die
Menschheit, also wir, doch noch etwas länger da sind. Ich habe,
trotz allem, noch immer Hoffnung.
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01-12-02 |