NS-Zwangsarbeiter, die nicht bald als
solche anerkannt werden, bekommen auch künftig kein Geld. Die
zuständige Bundesstiftung setzt alles daran, um die Zahl der
Entschädigten möglichst klein zu halten.
Von Rolf Surmann
Jungle World,
19.02.2003
Isaac Singer, der Präsident des World Jewish Congress,
besuchte Anfang Februar Berlin, um mit Bundesfinanzminister Hans
Eichel über "einige tausend Zwangsarbeiter zu reden, deren Existenz
erst jetzt bekannt geworden ist". Deshalb hatten sie bislang keinen
Anspruch auf Zahlungen der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft. Der Zeitpunkt von Singers Reise war mit Bedacht gewählt.
Denn in der zweiten Hälfte dieses Jahres soll mit der Auszahlung der
zweiten Rate jener "humanitären Leistungen" begonnen werden, die im
Jahr 2000 im Stiftungsgesetz zugestanden werden mussten. Dann hat
also festzustehen, wie viel Geld für die sich vermutlich bis 2005
hinziehende zweite Zahlung noch übrig ist. Denn die insgesamt zu
verteilende Summe steht fest, und die deutsche Seite hat
nachdrücklich erklärt, keinen einzigen Cent mehr zuschießen zu
wollen. Die letzten Ausschlussentscheidungen werden also jetzt
gefasst, und wer Gehör finden will, muss in diesen Wochen in Berlin
vorsprechen.
Damit wird zugleich das Strukturproblem der Stiftung deutlich.
Die Opfer haben keine garantierten Rechte, sondern müssen sich den
zugestandenen Gesamtbetrag in irgendeiner Form teilen. Zwar wurden
Maximalbeträge vertraglich vereinbart - etwa 15 000 Mark für
Zwangsarbeit bei gleichzeitiger KZ-Haft, 5 000 Mark für Zwangsarbeit
unter anderen Haftbedingungen -, doch ist die zur Verteilung
bestimmte Summe so klein, dass die Beträge in der Regel viel
geringer sein werden. Und je mehr Menschen noch eine erste Rate
ausgezahlt bekommen, desto geringer wird die zweite für alle.
Dieses Prinzip hatten die Bundesregierung und Wirtschaftvertreter
bei den Verhandlungen durchgesetzt. Sie weigerten sich zum Beispiel
hartnäckig, Landarbeiterinnen und Landarbeitern Leistungen
zuzugestehen. Der schäbige Kompromiss war eine Öffnungsklausel: Zwar
können die Partnerorganisationen in den jeweiligen Ländern diesen
Personenkreis berücksichtigen, müssen aber trotzdem mit den Mitteln
auskommen, die ihnen für »entschädigungsberechtigte« NS-Opfer zur
Verfügung gestellt werden. Wie erfolgreich die deutschen Stifter bei
ihren Bemühungen waren, den Opfern ihre Rechte zu verweigern, zeigt
sich an dem Umstand, dass es nach ersten Erhebungen in manchen
Ländern mehr Antragsteller nach den Kriterien der Öffnungsklausel
gibt als so genannte Leistungsberechtigte.
Mag es auf den ersten Blick so scheinen, als könne der Stiftung
die Zahl der "Leistungsberechtigten" gleichgültig sein, so hat sie
dennoch gute Gründe, über das Anerkennungsverfahren zu wachen. Vor
allem will sie nicht den Eindruck entstehen lassen, zwischen den im
Stiftungsvertrag genannten Maximalbeträgen und den tatsächlich
ausgezahlten Beträgen gebe es eine zu große Kluft. Dies könnte aber
nach den vorliegenden Zahlen durchaus passieren. So muss die
Stiftung jetzt von 160 000 jüdischen Antragstellern ausgehen,
während bei der Planung nur 135 000 berücksichtigt wurden. Große
Teile der deutschen Öffentlichkeit erklärten sich schon die zuerst
angenommene Zahl im Übrigen - Stichwort "Holocaust-Industrie" - mit
"jüdischer Geldgier". Insgesamt sind bisher 2,4 Millionen Anträge
eingegangen. 1,8 bis 1,9 Millionen werden nach aktuellen Schätzungen
anerkannt werden müssen. Bei den Verhandlungen war man von lediglich
1,5 Millionen ausgegangen.
Die Diskrepanz zwischen Antragstellern und
»Leistungsberechtigten« könnte sich dadurch noch vergrößern, dass
Opfer, die nach dem Stiftungsgesetz nur Anspruch auf eine geringe
Entschädigung haben, bei einer zu großen Zahl von Anträgen ganz leer
ausgehen. In einem Bericht der Bundesregierung wurde über Menschen
mit "sonstigen Personenschäden" bereits festgestellt, dass zwar
Opfer der "ersten Kategorie" berücksichtigt werden können, für die
in die Kategorien zwei und drei sortierten Menschen die finanziellen
Mittel aber nicht ausreichen.
Diese Situation ist der Stiftung deshalb nicht gleichgültig, weil
die Sicherheit deutscher Konzerne vor Klagen in den USA wesentlich
davon abhängt, dass die Gerichte dort auf die Stiftungszahlungen als
Weg der außergerichtlichen Klärung verweisen können. Hinzu kommt das
spezielle Problem, dass die deutsche Wirtschaft nur einen Bruchteil
der durch ihre verspätete Einzahlung erzielten Zinsen zur Verfügung
stellt, den Großteil jedoch dafür verwendet hat, ihr Beitragsdefizit
zu decken. Der Streit hierüber ist nach wie vor nicht beigelegt. Je
geringer die Stiftungsleistungen sein werden, desto eher muss die
deutsche Wirtschaft mit der Wiederaufnahme von derzeit
zurückgestellten Klagen rechnen.
So erklärt es sich, dass es zur Stiftungspolitik gehört, den
Kreis der Entschädigungsberechtigten so klein wie möglich zu halten.
Beispielhaft hierfür ist das Verhalten gegenüber sowjetischen und
italienischen Zwangsarbeitern mit Kriegsgefangenenstatus, denen
trotz ihres besonderen Leidensweges Stiftungsleistungen verwehrt
wurden. An dieser Vorgehensweise zeigt sich nicht nur erneut die
bereits über Jahrzehnte praktizierte Weigerung, die deutschen
Verbrechen einzugestehen. Offensichtlich wird auch, wie perfide die
Stiftung argumentiert, um ihre Interessen durchzusetzen. Im Falle
der italienischen Zwangsarbeiter erklärte sie etwa, die Betroffenen
seien zwar als ursprüngliche Kriegsgefangene vom NS-Regime in den
Zivilstatus überführt worden - und wären damit anspruchsberechtigt
-, doch habe man damit gegen ihre Rechte als Kriegsgefangene
verstoßen, die heute aber wieder anerkennt würden. Damit gelten sie
doch als Kriegsgefangene und haben keinen Anspruch auf Leistungen
der Stiftung.
Vor diesem Hintergrund ist es beinahe unfassbar, dass eine solche
Einrichtung nicht unter Rechtfertigungsdruck steht, sondern selbst
als Kontrollinstanz auftritt. Die Stiftung spricht gern von ihrer
Aufgabe, die Partnerorganisationen zu "überwachen". Prüfteams
kontrollieren die Entscheidungen einzelner Länder. Ihr Ziel ist es,
Abweichungen von den in Berlin aufgestellten Regeln aufzuspüren. Ein
nennenswerter Konflikt ergab sich bisher nur mit Tschechien, wo nach
Berliner Vorstellungen zu vielen "Unberechtigten" Leistungen
zugestanden worden waren.
Ist die Stiftung mal gezwungen, ihren Kurs ein wenig zu ändern,
so präsentiert sie dies der deutschen Öffentlichkeit als Geste der
Großzügigkeit. Zum Beispiel berichtete die Frankfurter Rundschau,
nach einem Gespräch mit der Jewish Claims Conference habe man Lager
als Konzentrationslager anerkannt, die bisher nicht als solche
gegolten hätten. Verschwiegen wurde dabei zweierlei: Erstens ist es,
seit das Bundesentschädigungsgesetz in den fünfziger Jahren in Kraft
trat, eine gängige Praxis, die Rechte der Opfer durch die
restriktive Klassifizierung von Lagern einzuschränken. Zweitens hat
die Stiftung selbst NS-Opfern Ablehnungsbescheide zugestellt, deren
Lager bisher als KZ oder KZ-ähnlich im Sinne des
Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt worden waren.
Die Stiftung steht damit in der Tradition deutscher
Institutionen, die mit der "Wiedergutmachung" zu tun hatten. Ihre
Zahlungspraxis war immer Ausdruck eines grundsätzlichen Unwillens
zur Entschädigung. Es wundert daher nicht, dass unter
Verfolgtenorganisationen in Russland ein Papier kursierte, das zum
Verzicht auf einen Antrag und zum Boykott der Stiftung aufrief.