Urangst vor der
Zerstörung:
Der Mut der Ängstlichen
Von Thorsten Schmitz
Die Intifada hat bei den
Israelis Ur-angst vor der Zerstörung ihres Staates ausgelöst. Sie sehen
den "sicheren Hafen" in Gefahr, der vor 53 Jahren für alle Juden
gegründet worden war. Eine nüchterne Einschätzung der Lage wird durch
diese Angst erschwert.
Viele Israelis projizieren die
Problematik des Nahost-Konfliktes einzig und allein auf die
Palästinenser und ihren Führer Jassir Arafat. Dessen Nein zu einer
Einigung in Camp David wird allein verantwortlich gemacht für den
Zusammenbruch des Friedensprozesses. In den Augen der Israelis geht es
Arafat darum, den Staat Palästina durch bewaffneten Kampf zu ertrotzen.
Nur vereinzelt wird in Israel hingegen Kritik geübt an der Politik der
völkerrechtswidrigen Liquidierung hochrangiger palästinensischer Führer
und mutmaßlicher Terroristen. Die Unfähigkeit und der fehlende Mut
Arafats zum Frieden nutzt Israel zur Zementierung des Status quo der
Besatzung. Israel kennt keine Selbstzweifel.
Premierminister Ariel Scharon
redet nicht viel, er handelt. Er spielt damit die Rolle der Vaterfigur
und bei einer Mehrheit der Israelis kommt das gut an. Besser jedenfalls
als die ungestümen Vorschläge seines Vorgängers Ehud Barak. Bestärkt
durch positive Umfragewerte lässt Scharon in palästinensisches Gebiet
einmarschieren, ignoriert Recht und Gesetz und tötet ohne
Gerichtsverfahren palästinensische Führer, er zerstört nach und nach die
Infrastruktur der palästinensischen Autonomiebehörde und verweigert
jeden Dialog mit Arafat. Scharon bedient sich der selben Mittel wie die
Palästinenser. Er lässt töten und zerstören.
Arafats Nein in Camp David war
ein historischer Fehler, vergleichbar mit dem Nein der Palästinenser
1948 zur Aufteilung Palästinas in zwei Staaten. Aber Israel missbraucht
diesen Fehler als Legitimation, die Besatzung aufrecht zu erhalten.
Dabei haben die vergangenen elf Monate der Intifada gezeigt: Die
Fremdherrschaft über dreieinhalb Millionen Palästinenser droht Israel
selbst zu zerstören. Liquidierungen, Landnahme und das Demolieren von
Häusern heizen den Hass und die Gewalttätigkeit der Palästinenser nur
noch mehr an. Das gilt auch für ihren Wagemut. Sie haben nichts zu
verlieren, außer ihr Leben. Über das kostbarste Gut eines Menschen, die
Freiheit, verfügen sie ja nicht. Die Israelis dagegen besitzen einen
Staat und Freiheit. Gleichwohl macht die Besatzung und Besiedlung von
Gazastreifen und Westjordanland die Israelis zu einer Geisel ihrer
selbst.
Die Politik Scharons ist der
verzweifelte Versuch, im 21. Jahrhundert ein Volk zu kolonisieren. Man
kann Israel keinen Vorwurf machen, wenn es Selbstmordattentate vergilt.
Scharon aber lässt zusätzlich "präventiv" töten, um Selbstmordattentate
angeblich zu verhindern. Diese Politik basiert auf zwei irrigen
Annahmen: dass Israel unter Beweis stellen müsse, wer der Stärkere im
Konflikt ist. Und dass Israel nur unerbittlich genug der Gewalt der
Palästinenser militärisch entgegentreten müsse, bis diese eines Tages
vernünftig werden, Scharon die Hand schütteln und sich mit einem Mini-
Palästina unter israelischem Diktat zufrieden geben. Dazu wird es nie
kommen.
Solange Israel im Gazastreifen
und dem Westjordanland seine Herrschaft aufrecht erhält, untergräbt es
sich moralisch selbst. Denn ein demokratischer Staat, der Israel sein
will, herrscht nicht über ein fremdes Volk. Andererseits könnte eine
Evakuierung der jüdischen Siedlungen in den Palästinensergebieten einen
jüdisch-jüdischen Bürgerkrieg heraufbeschwören. Und die Palästinenser
würden den falschen Schluss ziehen, dass sie letztlich durch ihren
Guerillakrieg gegen Israel ihren Boden zurückgewonnen hätten. Ein
solcher im Triumph gewonnener Staat Palästina wäre eine Bedrohung für
den Staat Israel. Eine Entsendung von UN- oder gar Nato-Truppen wäre
daher unvermeidlich. Unter deren Schutz könnte Israel den Rückzug seiner
Siedler vollziehen und die Palästinenser sich selbst sowie der Hilfe von
USA und EU überlassen. Auch wäre so garantiert, dass der
palästinensische Staat nicht über Jordanien mit Waffen aus dem Irak
versorgt würde.
Die zurückgelassenen Häuser und
Straßen der 200000 Siedler sollte Israel den Palästinensern überlassen.
In sie könnte ein Teil der palästinensischen Flüchtlinge einziehen, die
in Lagern im Libanon, in Jordanien und Syrien leben. Die Häuser der
jüdischen Siedler, ihre Gärten, Swimmingpools, Straßen und Tankstellen
könnten von den Palästinensern als Wiedergutmachung empfunden werden und
das Problem des Rückkehrrechts palästinensischer Flüchtlinge lösen
helfen. Mit Scharon allerdings wird keine einzige jüdische Siedlung
verschwinden.
Israel lebt in einem Widerspruch.
Es bekämpft zu Recht die Gewalt der Palästinenser und die Morde an
Israelis – gleichzeitig will es nicht sehen, dass Besatzung, Landnahme,
Blockaden und wirtschaftliche Abriegelungen die Ursachen sind für den
Terror. Fatal ist, dass Scharon diesen Widerspruch nicht auflösen muss
und doch bis zum Ablauf seiner Amtszeit im November 2003 Regierungschef
bleiben kann. Denn je mehr die Palästinenser Israel terrorisieren, desto
größer wird der Rückhalt für Scharon, Besatzung und Vergeltungsschläge.
haGalil onLine
29-08-2001 |