WAGNER,
BARENBOIM UND DIE BEGRENZTE KRAFT DER MUSIK
Tristan in
Jerusalem
Als im Juli
Daniel Barenboim in Israel Richard Wagner zur Aufführung brachte, wurde
er mit Boykott bedroht, denn Wagner war bislang in Israels Konzertsälen
tabu. Der in Argentinien geborene und in Israel aufgewachsene
Stardirigent habe, so hieß es, die Gefühle vieler Bürger Israels
verletzt. Der palästinensische Schriftsteller Edward Said nimmt den
Vorfall zum Anlass für die Frage: Kann man die Musik eines Komponisten
lieben, den Hitler verehrte? Kann man also das Werk eines Künstlers von
seiner Person trennen? Und wenn es die von Barenboim beschworene
"versöhnende Kraft der Musik" wirklich gibt, wie ist sie beschaffen?
"Durch die Musik", so Barenboim, "kann es Annäherungen und
Freundschaften geben, die sonst undenkbar wären, und doch wird die Musik
die Probleme des Nahen Ostens nicht lösen."
Von EDWARD S.
SAID *
* Autor u. a. von "Der
wohltemperierte Satz", München 1995 , "Am falschen Ort. Autobiographie",
Berlin 2000 und "Frieden in Nahost? Essays über Israel und Palästina",
Heidelberg 1997
In Israel hat es einen Skandal
gegeben, der zu komplexeren Überlegungen einlädt. Der große Pianist und
Dirigent Daniel Barenboim hat am 7. Juli 2001 in einem Konzert in Tel
Aviv einen Orchesterauszug aus einer Wagner-Oper zur Aufführung
gebracht. Seither wurde Barenboim - mit dem ich, das sei vorweg gesagt,
gut befreundet bin - mit unzähligen Kommentaren, Schmähungen und
Bekundungen des Erstaunens bedacht, und zwar weil Richard Wagner
(1813-1883) ein berüchtigter (und zutiefst abstoßender) Antisemit war;
und weil er geraume Zeit nach seinem Tod zu Hitlers Lieblingskomponisten
avancierte, weshalb er, durchaus nicht unberechtigt, mit den Taten des
Nazi-Regimes assoziiert wird - also mit dem schrecklichen Schicksal von
Millionen Juden und anderen von den Nazis umgebrachten "Untermenschen".
In Israel ist Wagners Musik in
öffentlichen Konzertsälen tabu, wenngleich seine Musik gelegentlich im
Radio gespielt wird und Aufnahmen in Plattenläden erhältlich sind. Für
viele israelische Juden sind Wagners äußerst komplexe Werke, so sehr sie
die Welt der Musik auch beeinflusst haben mögen, zum Symbol der
Schrecken des deutschen Antisemitismus geworden.
Auch viele nichtjüdische Europäer
- vor allem aus Ländern, die während des Zweiten Weltkriegs von den
Nazis besetzt waren - lehnen Wagner aus ähnlichen Gründen ab. Weil seine
Musik zum Teil so bombastisch und "germanisch" klingt (was immer man
unter diesem häufig missbrauchten Adjektiv verstehen mag), weil er
ausschließlich Opern komponierte, weil sein Werk so tief in der
germanischen Mythologie mit ihren Traditionen und Heldentaten wurzelt
und weil er so unermüdlich, wortgewaltig und schwülstig seine meist
zweifelhaften Ideen über minderwertige Rassen und hehre (germanische)
Helden verfochten hat, ist Wagner als Person nur schwer zu akzeptieren,
geschweige denn zu mögen oder zu bewundern.
Dennoch war er im Bereich des
Theaters und der Musik fraglos ein großes Genie. Er hat unsere
Vorstellungen von der Oper revolutioniert; er hat die Grenzen der
Tonalität ausgelotet und neu definiert; und er hat uns zehn große
Meisterwerke hinterlassen, zehn Opern, die nach wie vor zu den
Höhepunkten der westlichen Musik zählen. Somit stellt er nicht nur für
israelische Juden, sondern für alle Menschen eine Herausforderung dar:
Wie kann man seine Musik bewundern und aufführen und sie gleichzeitig
getrennt halten von seinen anrüchigen Schriften und davon, dass die
Nazis sie sich zunutze gemacht haben.
Wie Barenboim häufig
hervorgehoben hat, enthält keine der Wagnerschen Opern ausdrücklich
antisemitische Stellen. Einfacher gesagt: Die Juden, die er hasste und
über die er in seinen Pamphleten schrieb, tauchen in seinen
musikalischen Werken nirgends als Juden oder jüdische Charaktere auf.
Viele Kritiker haben bei einigen Figuren, die Wagner in seinen Opern mit
Verachtung und Hohn bedenkt, antisemitische Züge ausgemacht. Aber es
handelt sich dabei um Anschuldigungen, die nicht belegt werden. Auch
wenn Beckmesser - eine lächerliche Figur in Wagners einziger komischer
Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" - tatsächlich erhebliche
Ähnlichkeiten mit damals verbreiteten Judenkarikaturen aufweist, ist er
dennoch in der Oper selbst kein Jude, sondern ein deutscher Protestant.
Offensichtlich machte Wagner in seinem Kopf eine Unterscheidung:
zwischen der Wirklichkeit und der Musik - in seinen Schriften äußerte er
sich wortreich über Juden, in der Musik verlor er keine Note über sie.
Bis zum 7. Juli dieses Jahres
hielten sich jedenfalls alle an den allgemeinen Konsens, Wagners Werke
in Israel nicht zu spielen. Neben dem Chicago Symphony Orchestra leitet
Daniel Barenboim auch die Berliner Staatskapelle. Diese gab Anfang Juli
im Rahmen einer Israeltournee drei Konzerte in Jerusalem. Ursprünglich
hatte Barenboim geplant, in dem Konzert am 7. Juli den ersten Akt von
Wagners Oper "Die Walküre" zu spielen. Da jedoch der Leiter des
Israel-Festivals, der das deutsche Orchester eingeladen hatte, um eine
Änderung bat, setzte Barenboim stattdessen Schumann und Strawinsky aufs
Programm. Am Ende des Konzertes jedoch wandte er sich ans Publikum und
schlug als zweite Zugabe einen kurzen Auszug aus Wagners "Tristan und
Isolde" vor. Er lud die Zuhörer ein, darüber zu diskutieren und
abzustimmen, und am Ende einer heftigen Debatte zwischen Befürwortern
und Gegnern waren die Befürworter in der Mehrheit. Barenboim kündigte
daraufhin an, er werde das Stück spielen, betonte jedoch, dass er
niemandes Gefühle verletzen wolle, und schlug deshalb vor, dass all
jene, die diese Musik als Zumutung empfänden, den Saal vorher verlassen
mögen. So geschah es. Die allermeisten der verbliebenen 2 800 Israelis
haben das Stück begeistert aufgenommen, das - ich bin sicher -
vortrefflich gespielt war.
Dennoch sind die Angriffe auf
Barenboim seither nicht verstummt. In der Presse vom 25. Juli wurde
berichtet, der Kultur- und Bildungsausschuss der Knesset dränge "Israels
kulturelle Institutionen, den Dirigenten zu boykottieren, solange er
sich nicht dafür entschuldige, Musik von Hitlers Hofkomponisten bei
Israels wichtigstem Kulturereignis gespielt zu haben". Der
Kultusminister wie andere Berühmtheiten unternahmen weitere Angriffe
gegen ihn.
Barenboim, der in Argentinien
geboren wurde und seine frühe Kindheit dort verbrachte, ist in Israel
herangewachsen und hat sich immer als Israeli gefühlt. Er besuchte
hebräische Schulen und besitzt neben seinem argentinischen auch einen
israelischen Pass. Außerdem galt er stets als bedeutender Botschafter
israelischer Kultur, zumal er über lange Jahre im Musikleben des Landes
eine zentrale Rolle spielte, auch wenn er seit dem Ende seiner Jugend
meist in Europa und den Vereinigten Staaten lebte. Dies hatte und hat
berufliche Gründe, denn außerhalb Israels boten sich ihm größere
künstlerische Möglichkeiten. Der Wunsch, als Pianist und Dirigent in
Berlin, Paris, London, Wien, Salzburg, Bayreuth, New York, Chicago,
Buenos Aires und ähnlichen Städten aufzutreten, war stärker als der nach
einem festen Lebensmittelpunkt. In gewissem Maße ist dieses
kosmopolitische und unkonventionelle Leben, wie wir sehen werden, einer
der Gründe dafür, dass sich seit dem Wagner-Vorfall die Angriffe gegen
Barenboim häufen.
Darüber hinaus ist er eine
äußerst komplexe Gestalt - auch das mag einiges zu der jüngsten
Aufregung beigetragen haben. Alle Gesellschaften bestehen aus einer
Mehrheit von Durchschnittsbürgern - Menschen, die eingefahrenen Geleisen
folgen - und einer winzigen Anzahl von Menschen, die kraft ihres Talents
und ihrer inneren Unabhängigkeit ganz und gar nicht durchschnittlich
sind und in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung, ja, einen Affront
für die gewöhnlich sanftmütige Mehrheit darstellen. Probleme treten auf,
sobald die Mehrheit versucht, der winzigen Minderheit, die sich nicht an
die eingespielten Routinen hält, ihre Sichtweisen, Regelungen und
Horizonte aufzuzwingen.
Der Konflikt ist unvermeidlich,
denn Menschen, die anders sind - talentierter, origineller - sind für
die Mehrheit nicht leicht zu ertragen, sie lösen zwangsläufigirrationale
Reaktionen aus. Man erinnere sich, wie Sokrates von den Athenern
behandelt wurde, weil er ein Genie war und jungen Menschen unabhängiges
und skeptisches Denken beibrachte: er wurde zum Tode verurteilt. Die
Juden von Amsterdam haben Spinoza exkommuniziert, weil seine Gedanken
eine Überforderung für sie waren. Galileo wurde von den Inquisitoren der
katholischen Kirche verhört, inhaftiert und zum Widerruf gezwungen. Und
Al-Hallaj wurde 922 in Bagdad für seine Einsichten gekreuzigt. So ging
es jahrhundertelang. Daniel Barenboim hat zu viele der Grenzen
überschritten und zu viele der Tabus verletzt, die die israelische
Gesellschaft in Bann halten. Es lohnt sich, seine verschiedenen
Übertretungen zu beschreiben.
Die Grenzen
überschreiten
MUSIKALISCH gesehen ist Barenboim
eine überwältigende Ausnahmeerscheinung. Er besitzt alle nur denkbaren
Begabungen, die ein großer Solist und Dirigent braucht - ein enormes
Gedächtnis, Kompetenz und Brillanz in technischen Fragen, ein
gewinnendes Auftreten vor dem Publikum und vor allem eine große Hingabe
und Liebe zu seiner Arbeit. Nichts in der Musik ist ihm fremd oder zu
schwer. Er tut alles mit scheinbar müheloser Meisterschaft - jeder
lebende Musiker wird das bestätigen.
Aber ganz so einfach liegen die
Dinge nicht. Seine prägenden Jahre verbrachte er zunächst im
spanischsprachigen Argentinien, dann im hebräischsprachigen Israel - er
besitzt beide Nationalitäten und ist doch in keiner bruchlos zu Hause.
Seit seiner späten Jugend hat er nicht mehr wirklich in Israel gelebt;
er zog stattdessen die kosmopolitische und kulturelle Atmosphäre Europas
und der Vereinigten Staaten vor, wo er, wie bereits erwähnt, zwei der
angesehensten Positionen in der Welt der Musik einnimmt: als Dirigent
des vielleicht besten amerikanischen Orchesters (in Chicago) und als
Leiter eines der großartigsten und ältesten Opernorchesters der Welt
(der Berliner Staatskapelle). Zugleich setzt er seine Karriere als
Pianist fort. Wer derart erfolgreich auf so vielen Bühnen der Welt
agieren will, kann sich nun einmal gerade nicht dadurch auszeichnen,
dass er sich eifrig an Standars und Üblichkeiten hält. Seine Norm ist im
Gegenteil die regelmäßige Aufweichung von bestehenden Konventionen und
Grenzen. Dies gilt ganz generell für ungewöhnliche Menschen. Wer nur
innerhalb der regulierenden Grenzen des sozialen und politischen Lebens
existiert, aus dem wird wohl im Allgemeinen kein bahnbrechender Künstler
oder Wissenschaftler werden.
Aber es wird noch komplizierter.
Aufgrund seines reichen Lebens, seiner vielen Reisen und seiner
Sprachbegabung (er beherrscht sieben Sprachen) ist Barenboim in gewissem
Sinne überall und nirgends zu Hause. Folglich sind seine Besuche in
Israel meist auf wenige Tage im Jahr beschränkt, obwohl er telefonisch
und durch die Zeitungslektüre den Kontakt aufrechterhält. Derzeit
verbringt er im Übrigen, nachdem er lange in den Vereinigten Staaten und
Großbritannien gelebt hat, den größten Teil seiner Zeit in Deutschland.
Man kann sich vorstellen, dass
das vielen Juden, die Deutschland nach wie vor als Verkörperung des
Bösen und des Antisemitismus sehen, ein Dorn im Auge ist. Zu allem
Überfluss spiegelt Barenboims Musikrepertoire den klassischen
österreichisch-deutschen Kanon, in dem Wagners Opern an zentraler Stelle
stehen. (Darin folgt er Wilhelm Furtwängler, dem größten deutschen
Dirigenten des zwanzigsten Jahrhunderts - auch er politisch eine äußerst
widersprüchliche Figur.)
Ästhetisch ist dies natürlich für
einen klassischen Musiker eine vernünftige, um nicht zu sagen
vorbestimmte Entscheidung. Schließlich umfasst dieser Kanon die großen
Werke von Mozart, Haydn, Beethoven, Brahms, Schumann, Bruckner, Mahler,
Wagner und Richard Strauss. Dazu kommen natürlich viele französische,
russische und spanische Komponisten. Aber im Zentrum steht
österreichische und deutsche Musik, eine Musik, die viele jüdische
Philosophen und Künstler - vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg - vor
große Probleme gestellt hat. Der große Pianist Arthur Rubinstein, ein
Freund und Mentor Barenboims, hat sich mehr oder weniger geweigert,
jemals nach Deutschland zu gehen und dort zu spielen, weil er als Jude
nicht in ein Land wollte, das so viele seiner Landsleute ermordet hatte.
Barenboims Aufenthalt in Berlin, im Herzen der früheren
Reichshauptstadt, einer Stadt, der in den Augen vieler lebender Juden
bis heute die Zeichen des Bösen anhaften, musste daher bei vielen seiner
israelischen Bewunderer ein Gefühl der Befremdung auslösen.
Kunst und
Politik - eine unheilige Allianz
NUN könnte man als Außenstehender
den wohlfeilen Rat erteilen, die Menschen sollten nicht alles so eng
sehen und sich daran erinnern, dass die Kunst das eine, die Politik aber
etwas ganz anderes sei - eine im Grunde unsinnige Position, die den
meisten der von uns verehrten Künstlern und Musikern zuwider ist. Alle
großen Komponisten waren auf die eine oder andere Weise politisch und
vertraten recht ausgeprägte politische Ideen. Einige dieser Ideen - wie
die des jungen Beethoven, der Napoleon als großen Feldherrn verehrte,
oder die Debussys, eines französischen Nationalisten des rechten Flügels
- sind aus heutiger Sicht ziemlich anfechtbar. Haydn, um ein anderes
Beispiel zu nennen, war ein serviler Angestellter seines
aristokratischen Patrons, des Fürsten Esterhazy, und selbst das größte
aller Genies, Johann Sebastian Bach, musste sich lange Jahre an den
Höfen von Weimar und Köthen nach der Decke strecken.
Heute sind uns diese Dinge
ziemlich gleichgültig geworden, weil sie sich in einer fernen
Vergangenheit abgespielt haben. Nichts davon erscheint uns so
offensichtlich anstößig wie etwa eines der rassistischen Pamphlete des
britischen Historikers Thomas Carlyle aus den Sechzigerjahren des
neunzehnten Jahrhunderts. Dabei sind jedoch noch zwei weitere Faktoren
im Spiel. Zum einen unterscheidet sich Musik als Kunstform von der
Sprache. Anders als die Worte, die wir verwenden, besitzen Noten keine
feste Bedeutung. Zum anderen ist Musik weitgehend transnational. Sie
überschreitet die Grenzen von Staat oder Nationalität und Sprache. Man
muss nicht Deutsch sprechen können, um Mozart zu schätzen, und man muss
kein Franzose sein, um eine Partitur von Berlioz zu lesen. Man muss nur
etwas von Musik verstehen - eine hoch entwickelte Technik, die man sich
mit großer Mühe aneignen muss und die sich deutlich von anderen
Wissensgebieten wie Geschichte oder Literatur unterscheidet. Allerdings
wird man, um einzelne Musikwerke wirklich verstehen und interpretieren
zu können, sich mit ihrem Kontext und ihrer Geschichte vertraut machen
müssen. In gewisser Hinsicht ähnelt die Musik der Algebra - aber eben
nicht ganz, wie der Fall Wagner bezeugt.
Wäre Wagner ein Komponist von
geringerem Rang gewesen oder hätte er sein Werk in aller Stille
komponiert, ohne viel Aufhebens von seiner Person zu machen, dann wären
seine Widersprüche wohl leichter zu akzeptieren oder zu tolerieren. Er
war jedoch unglaublich geschwätzig und überschwemmte Europa mit seinen
Auslassungen, seinen Projekten und seiner Musik. All das kam zusammen -
eindrucksvoller und stärker als bei jedem anderen Komponisten darauf
ausgerichtet, den Hörer zu überwältigen und zu bezwingen. Im Zentrum
seiner gesamten Arbeit stand sein eigenes fantastisch selbstbezogenes,
ja narzisstisches Ich, das er eindeutig als Verkörperung des Wesens der
deutschen Seele, ihres Schicksals sowie ihrer Vorzüge begriff.
Ich kann mich hier natürlich
nicht eingehender mit Wagners Werk auseinander setzen. Hervorgehoben sei
nur, dass er die Kontroverse suchte, dass er Beachtung forderte, dass er
alles für Deutschland und für sich tat und in den extremsten
revolutionären Begriffen dachte. Seine Musik sollte eine neue Musik
sein, eine neue Kunst, eine neue Ästhetik. Sie sollte die Tradition von
Beethoven und Goethe verkörpern und sie vorbildlich in einer neuen,
universalen Synthese transzendieren. Keinem Künstler ist je so viel
Beachtung geschenkt worden, über keinen ist mehr geschrieben und
nachgedacht worden als über Richard Wagner.
Wagner war für die Nazis wie
geschaffen, aber er wurde auch - und das darf man nicht vergessen - von
anderen Musikern als Held und großes Genie begrüßt. Sie verstanden, dass
seine Arbeit die westliche Musik von Grund auf veränderte. Noch zu
seinen Lebzeiten wurde ihm ein spezielles Opernhaus erbaut, ein Tempel
fast, allein für ihn und die Aufführung seiner Opern - in der kleinen
Stadt Bayreuth, wo noch immer jeden Sommer ausschließlich Wagners Musik
gespielt wird. Bayreuth und die Wagner-Familie lagen Hitler am Herzen,
und um die Angelegenheit noch komplexer zu machen, leitet Richard
Wagners Enkel Wolfgang noch heute die Sommerfestspiele, und Barenboim
tritt dort seit fast zwei Jahrzehnten regelmäßig als Gastdirigent auf.
Aber auch das ist noch nicht
alles. Barenboim ist offensichtlich ein Künstler, der Hindernisse
überwindet, Verbotsgrenzen überschreitet und sich in Tabuzonen vorwagt.
Auch wenn er sich nicht als politische Figur gebärdet, hat er doch
niemals einen Hehl daraus gemacht, dass er mit der israelischen
Besatzungspolitik nicht glücklich ist. Anfang 1999 hat er sogar als
erster Israeli der Bir-Zeit-Universität im Westjordanland das Angebot
gemacht, dort ein kostenloses Konzert zu geben. Außerdem hat er in den
letzten drei Jahren in einem kühnen Unternehmen junge israelische und
arabische Musiker zusammengeführt (zweimal fanden die Treffen in Weimar,
einmal in Chicago statt), um jenseits der politischen Lage und der
aktuellen Konflikte in der völlig unpolitischen Kunst gemeinsamer
Musikinterpretation eine Verbindung zu stiften.
Der Andere fasziniert ihn, und er
weist kategorisch jegliche Position von sich, die behauptet,
Unwissenheit sei manchmal besser als Wissen. Ich stimme mit ihm darin
überein, dass Unwissenheit für ein Volk keine brauchbare politische
Strategie ist und dass folglich jeder auf seine Weise versuchen muss,
den Anderen zu verstehen und kennen zu lernen, unabhängig von
vorhandenen gesellschaftlichen Tabus. Nicht viele Menschen denken so,
aber für mich ist dies die einzige intellektuell vertretbare Position,
und es gibt immer mehr Menschen, die so denken wie ich. Das bedeutet
nicht, dass man auf die Verteidigung der Gerechtigkeit oder auf
Solidarität mit den Unterdrückten verzichten soll. Es bedeutet nicht,
dass man die eigene Identität aufgeben soll.
Es bedeutet auch nicht, dass man
sich von der realen Politik abwenden soll. Es bedeutet jedoch, dass der
Weg zu staatsbürgerlichem Verhalten über Vernunft, Verständnis und
intellektuelle Analyse führt und nicht über die Erregung und Förderung
kollektiver Leidenschaften wie jene, von denen sich die Fundamentalisten
anscheinend treiben lassen. Ich selbst fühle mich diesen Überzeugungen
seit langem verpflichtet - vielleicht liegt hierin ein Grund, warum
Barenboim und ich trotz unserer Differenzen Freunde geblieben sind.
Wer ein so komplexes Phänomen wie
Richard Wagners Musik rundheraus ablehnt, kategorisch verdammt und
undifferenziert anprangert, nimmt eine irrationale und letztlich
inakzeptable Haltung ein - so ähnlich, wie es für uns Araber eine dumme
und verderbliche Politik war, jahrelang Phrasen wie "das zionistische
Gebilde" zu verwenden und uns jedem Versuch strikt zu verweigern, Israel
und die Israelis zu verstehen und zu analysieren - mit der Begründung,
man müsse ihre Existenz leugnen, weil sie die nakba
(die palästinensische Katastrophe) verursacht hätten. Die Geschichte hat
ihre eigene Dynamik, und wenn wir von den israelischen Juden verlangen,
die erschreckenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber dem
palästinensischen Volk nicht mit dem Holocaust zu rechtfertigen, dann
müssen auch wir auf Dummheiten verzichten, etwa auf die Behauptung, der
Holocaust habe niemals stattgefunden und alle Israelis, Männer, Frauen
und Kinder seien nun einmal unsere Feinde.
Nichts Geschichtliches ist in der
Zeit eingefroren; nichts in der Geschichte ist dem Wandel entzogen;
nichts in der Geschichte liegt jenseits von Vernunft und Verstand,
jenseits von Analyse und Beeinflussung. Egal, welchen Unsinn die
Politiker verbreiten und tun, egal, was uns die Demagogen einreden.
Unter Intellektuellen, Künstlern und freien Bürgern muss es immer Raum
für den Dissens geben, für andere Ansichten, für Möglichkeiten und Wege,
die Tyrannei der Mehrheit herauszufordern. Gleichzeitig - und das ist
noch wichtiger - müssen wir versuchen, die Aufklärung und die Freiheit
der Menschen voranzubringen.
Man kann dies nicht einfach als
westliches Gedankengut abtun und erklären, derlei Gedanken besäßen eben
für Araber und Muslime - oder auch für jüdische Gesellschaften und
Traditionen - keine Geltung. Aufklärung und Freiheit sind universale
Werte, die in jeder mir bekannten Tradition zu finden sind. Jede
Gesellschaft kennt Konflikte zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit,
Ignoranz und Wissen, Freiheit und Unterdrückung. Es geht nicht einfach
darum, sich der einen oder der anderen Seite anzuschließen, weil einem
das irgendjemand so sagt. Es kommt vielmehr darauf an, sorgfältig zu
entscheiden und am Ende zu Urteilen zu gelangen, die der Situation als
Ganzes gerecht werden. Der Zweck der Bildung liegt nicht darin,
Faktenwissen zu akkumulieren oder die richtigen Antworten auswendig zu
lernen, sondern zu lernen, wie man ein selbstständiges, kritisches
Denken entwickelt und den Dingen eine eigenständige Deutung zu geben
vermag.
Im Falle von Wagner und Barenboim
in Israel macht man es sich zu leicht, wenn man den Dirigenten als
Opportunisten oder als gefühllosen Abenteurer abkanzelt. Ebenso wäre es
zu einfach, zu sagen, Wagner sei ein schrecklicher Mann mit allgemein
reaktionären Ansichten gewesen und deshalb könne man seine Musik, so
schön sie auch sei, nicht tolerieren, weil sie mit dem gleichen Gift
infiziert sei wie seine Schriften. Wie wollte man das nachweisen? Wie
viele Schriftsteller, Musiker, Dichter, Maler blieben uns denn noch,
wenn ihre Kunst an ihrem moralischen Verhalten gemessen würde? Und wer
wollte entscheiden, wieviel Hässlichkeit und Schändlichkeit im Werk
eines jeden Künstlers noch zu dulden sei?
Sobald man einmal mit der Zensur
begonnen hat, gibt es theoretisch keine Grenzen mehr. Ich meine, jeder
denkende Mensch sollte es sich abverlangen, ein Phänomen wie das von
Wagner und Israel in seiner Komplexität zu analysieren. Ein
vergleichbares Beispiel wäre der glänzende nigerianische Romancier
Chinua Achebe, der in einem berühmt gewordenen Essay der Frage nachgeht,
mit welcher Haltung ein Afrikaner heute Joseph Conrads "Herz der
Finsternis" lesen soll. Solchen Analysen obliegt es zu zeigen, wo das
Böse liegt und wo die Kunst.
Ein erwachsener Mensch sollte es
ertragen, dass in seinem Kopf Platz ist für widersprüchliche Fakten. Das
heißt in unserem Fall, dass Wagner eben erstens ein großer Künstler und
zweitens ein verabscheuenswürdiger Mensch war und dass drittens diese
beiden Tatsachen untrennbar zusammengehören.
Daraus ist freilich nicht der
Schluss zu ziehen, dass man Wagners Musik nicht anhören soll. Und
selbstverständlich muss sich auch umgekehrt niemand, dem bei Wagner die
Schrecken des Holocaust gegenwärtig werden, seine Musik anhören. Nur
wäre es doch angebracht, der Kunst mit einem gewissen Maß an Offenheit
zu begegnen. Natürlich ist kein Künstler über jedes moralische Urteil
erhaben. Sein Werk jedoch sollte nicht allein nach solchen Kriterien
beurteilt und - womöglich - verboten werden.
Zu guter Letzt noch eine weitere
Analogie zur arabischen Situation. In der Knesset wurde im vorigen Jahr
heftig darüber gestritten, ob der palästinensische Schriftsteller
Mahmoud Darwish in die Lektürelisten für israelische Oberschüler
aufgenommen werden soll oder nicht. Viele von uns haben in der scharfen
Ablehnung ein Indiz für die Engstirnigkeit des Zionismus gesehen. Sie
haben nicht verstanden, wieso junge Leute in Israel nicht einen
wichtigen palästinensischen Schriftsteller kennen lernen sollen, und
argumentierten, dass die Geschichte und die Wirklichkeit nicht bis in
alle Ewigkeit versteckt werden können und dass eine derartige Zensur
doch eigentlich den Lehrplan nicht bestimmen dürfe.
Mit Wagners Musik stellt sich ein
ähnliches Problem, obwohl nicht geleugnet werden kann, dass die
schrecklichen Assoziationen, die seine Musik und sein Denken auslösen,
ein echtes Trauma für all jene darstellen, in deren Augen der
Lieblingskomponist der Nazis sich auch für diese Vereinnahmung angeboten
haben muss. Und doch: Einen so bedeutenden Komponisten wie Wagner kann
man nicht einfach immer weiter ausgrenzen.
Hätte Barenboim nicht an jenem 7.
Juli ein Stück aus einer Wagner-Oper in Israel aufgeführt, so hätte es
früher oder später jemand anders getan. Die Realität ist komplex, und
wir können ihr noch so viele Hindernisse in den Weg legen, wir werden
sie uns nicht vom Halse halten. Die Frage lautet also nicht, ob es das
Phänomen Wagner gibt, sondern wie wir es verstehen sollen.
Die Kampagne gegen die
"Normalisierung" der Beziehungen zu Israel, die es im arabischen Raum
gibt, hat ähnliche Merkmale wie die israelischen Tabus gegenüber
palästinensischer Dichtung und Wagner. Das gilt, obwohl das
Palästina-Problem derzeit so besonders drängend ist: Schließlich
praktiziert Israel täglich kollektive Mord- und Bestrafungsaktionen
gegen ein Volk, dessen Land es seit 34 Jahren unrechtmäßig besetzt hält.
Unser Problem liegt darin, dass
arabische Regierungen zwar wirtschaftliche und politische Beziehungen
mit Israel unterhalten, diverse Gruppierungen innerhalb der arabischen
Gesellschaften jedoch versuchen, ein vollständiges Kontaktverbot mit
Israelis durchzusetzen. Das Verbot der Normalisierung ist insofern
unsinnig, als Israels Unterdrückung der Palästinenser - die Raison dêtre
dieses Verbots - durch diese Kampagne nicht weniger wird. Haben die
Antinormalisierungsmaßnahmen etwa ein einziges palästinensisches Haus
vor der Zerstörung bewahrt? Oder auch nur an einer einzigen
palästinensischen Universität das Lehrangebot verbessert? Leider nicht.
Deshalb bin ich der Auffassung, die angesehenen ägyptischen
Intellektuellen sollten ihre Solidarität mit den palästinensischen
Genossen lieber dadurch unter Beweis stellen, dass sie nach Palästina
kommen und dort unterrichten, Vorträge halten oder medizinisch tätig
sind, anstatt zu Hause zu hocken und andere von einem Besuch in
Palästina abzuhalten. In der Hand der Ohnmächtigen ist die
Antinormalisierung keine wirksame Waffe. Ihr Symbolwert ist gering, und
ihre tatsächliche Wirkung ist passiv und destruktiv.
Die erfolgreichen Waffen der
Schwachen - wie in Indien, den amerikanischen Südstaaten, Vietnam,
Malaysia und anderswo - waren immer aktiv, und oft auch aggressiv. Es
kommt darauf an, den mächtigen Unterdrücker sowohl moralisch als auch
politisch verwundbar zu machen und in seinem Selbstbewusstsein zu
erschüttern. Mit Selbstmordattentaten erreicht man das genauso wenig wie
mit Antinormalisierungskampagnen, die beispielsweise im Freiheitskampf
in Südafrika unter anderem zum Boykott von ausländischen
Wissenschaftlern führten.
Deshalb bin ich der Überzeugung,
dass wir versuchen müssen, dem israelischen Bewusstsein mit allem zu
Leibe zu rücken, was uns zur Verfügung steht. Wir müssen uns in Wort wie
Schrift an die israelische Öffentlichkeit wenden und das geltende Tabu
der Begegnung mit uns durchbrechen. Denn der eigentliche Grund für die
Debatte über palästinensische Literatur in israelischen Schulbüchern
liegt in der Angst davor, dem zu begegnen, was ihr kollektives
Gedächtnis unterdrückt hat. Der Zionismus hat versucht, die Nichtjuden
auszuschließen, und durch unseren Generalboykott - bis hin zum Boykott
der Bezeichnung "Israel" - haben wir den Zionismus in Wirklichkeit
gestärkt, statt ihm Einhalt zu bieten.
In anderer Hinsicht dürfte
Barenboims Vorgehen eine heilende Wirkung gehabt haben, obwohl es für
viele, die noch immer unter den realen Traumata des antisemitischen
Völkermords leiden, wirklich schmerzhaft gewesen ist: Es hat der Trauer
ermöglicht, einen Schritt weiter zu kommen, einen Schritt ins Leben zu
wagen, das weitergeht und nicht in der Vergangenheit eingefroren werden
kann. Vielleicht habe ich nicht alle Nuancen dieses komplexen
Fragengebildes erfasst, aber entscheidend muss sein, dass das wirkliche
Leben nicht beherrscht werden darf von Tabus und Verboten gegen
kritisches Verständnis und emanzipatorische Erfahrung. Diesen gebührt
immer die oberste Priorität. Ignoranz und Berührungsangst können uns
keinen Weg in die Gegenwart weisen.
aus dem Engl. von Meino Büning
Le Monde
diplomatique Nr. 6572 vom 12.10.2001, EDWARD S. SAID
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aue / hagalil.com / 16-10-2001 |