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Der jüdische Kindertransport nach England:
"Der olle Hitler soll sterben!"
 
"Evchen, wenn du die ersten schwarz-weißen Kühe entdeckst und die braun-weißen nicht mehr zu sehen sind, dann bist du in Holland!" Das hatte Eva Heymanns Vater der Zwölfjährigen noch gesagt bevor er sie in den Zug nach England setzte. "Als dann tatsächlich die ersten schwarz-weißen Kühe auf der Wiese standen, lehnte ich mich aus dem Fenster und schrie aus Leibeskräften: "Der olle Hitler soll sterben!" In dem Augenblick öffnete ein Zollbeamter die Tür, und ich zuckte vor Schreck zusammen. Ich dachte, jetzt werd ich festgenommen. Aber der Mann hatte wohl nichts gehört."
Eva Heymann, geboren 1925 in Berlin

Eine von vielen Erinnerungen, die in Anja Salewskys spannendem Buch über ein bislang kaum bekanntes Kapitel der Geschichte des Dritten Reiches, erzählt wird. 1938/39 entkamen in einer einzigartigen Rettungsaktion rund zehntausend jüdische Kinder aus Nazi-Deutschland. Die englische Regierung hatte sich nach der Reichsprogromnacht entschlossen, jüdische Flüchtlingskinder aufzunehmen. Die Eltern durften allerdings aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Situation nicht einreisen. Trotzdem entschlossen sich viele Eltern zu dem schweren Schritt, ihre Kinder alleine ins ungewisse, aber sichere England zu schicken.

Die Organisation der Kindertransporte

Wenige Tage nach der Reichsprogromnacht sprach eine kleine Gruppe Juden, darunter Chaim Weizmann und Oberrabbiner Josef Hertz, beim damaligen englischen Premierminister Neville Chamberlaine vor und forderte, daß zumindest jungen Juden aus Deutschland vorübergehend die Einreise nach Palästina genehmigt werden sollte. Die britische Mandatsmacht hatte zu dieser Zeit bereits strenge Einwanderungsquoten aufgesetzt. Der Vorschlag wurde vom Kabinett abgelehnt, dafür wollte man aber in England selbst eine unbegrenzte Zahl von Flüchtlingskindern aufnehmen. Da man aber ein Heer von Flüchtlingen zusätzlich zu den vielen Arbeitslosen fürchtete, was auch den Fremdenhaß schüren könnte, wurde den Eltern die Einreise nicht genehmigt. Zusätzlich mußte für jedes Kind eine Garantiesumme von 50 Pfund hinterlegt werden.

Verschiedene jüdische und nicht-jüdische Organisationen beteiligten sich intensiv an den Vorbereitungen, so daß am 1. Dezember 1938 der erste Kindertransport Berlin in Richtung London verließ. Die Ausreisegenehmigungen mußten von den deutschen Behörden erteilt werden. Gertrud Wejsmuller-Meijer, eine holländische Bankiersfrau, verhandelte mit Adolf Eichmann und es gelang ihr, eine pauschale Genehmigung für alle weitere Transporte zu erlangen.

Eigentlich sollten alle Kinder in eine Pflegefamilie kommen, aber bald waren mehr Kinder auf dem Weg nach England als Familien gefunden werden konnten. Die englische Bevölkerung zeigte sich allgemein sehr hilfsbereit und spendete innerhalb kurzer Zeit 200.000 Pfund.

Die Transporte fuhren von Berlin, München, Wien, Frankfurt und Prag, meistens durch Holland nach Hoeck van Holland, von da gelangten die mit dem Schiff an die englische Küste. Einige fuhren auch von Hamburg aus nach Southhampton. Mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges fanden die Transporte ein abruptes Ende. Deutschland war nun Feindesland.

"Once I was a Münchner Kindl"

Für die Kinder bedeutete der Zug nach England Sicherheit, Leben und Ende der Verfolgung, gleichzeitig aber auch Abschied, Trennung, Verlust der Heimat. Sie waren plötzlich auf sich gestellt, durften keine persönlichen Sachen mitnehmen, keine Spielsachen oder Bücher und hatten daher meist nur eine Fotographie von den Eltern dabei. An den Bahnhöfen spielten sich oft dramatische Szenen ab, so daß die Nazis eine Zeit lang verboten, daß Eltern ihre Kinder zum Zug brachten. Viele der Kinder konnten die Situation nicht begreifen, aber erstaunlich viele hatten eine ungute Ahnung, daß sie ihre Eltern nie mehr wieder sehen würden.

In England sind die Erlebnisse der jungen Flüchtlinge oft sehr ähnlich. Sie sprachen alle fast kein englisch, so daß sie sich anfangs nur mit Zeichensprache verständigen konnten. Beate Siegel erinnert sich, was ihr bei der Ankunft in London an der Liverpool Street Station durch den Kopf ging: "Leberteich - was für ein seltsamer Name!"

Nach der Ankunft saßen die Kinder auf den langen Holzbänken am Bahnhof mit einem Namensschild um den Hals und warteten darauf, daß sie abgeholt wurden oder wurden gleich in verschiedene Sammelunterkünfte gebracht. Einige hatten Glück mit ihren Gastfamilien, andere, v.a. Mädchen wurden als kostenlose Arbeitskräfte ausgewählt und mußten als Dienstmädchen schuften. Die Familien konnten in der Eile nicht mehr alle sorgfältig überprüft werden, so daß einige Kinder sehr schlechte Erfahrungen machen mußten.

Andere Kinder, die noch nicht vermittelt werden konnten, kamen nach der Ankunft in England zunächst in ein Sammellager, wie zum Beispiel Walter Bloch in das Dover Holiday Camp. Tatsächlich war der Winter 1938/39 einer der kältesten in England im ganzen Jahrhundert und die Kinder froren erbärmlich in den zugigen Sommerhütten. Potentielle Pflegeeltern besuchten das Camp und wählten Kinder aus. Walter hatte Glück und durfte auf das Internat Bunce Court zur Schule gehen, die Direktorin Anna Essinger nahm möglichst viele Flüchtlingskinder auf.

Mit Ausbruch des Weltkrieges veränderte sich für alle Flüchtlingskinder die Situation. Viele wurden evakuiert, mußten damit erneut die gerade vertraute Umgebung wechseln, andere wurden absurderweise als deutsche Spione verdächtigt. Am schwierigsten aber war die Tatsache, daß der Briefverkehr nach Deutschland unterbrochen wurde und die Kinder somit über das Schicksal ihrer Eltern im Unklaren blieben.

Für alle Kinder wurde England aber irgendwann ein neues Zuhause und fast alle blieben dort. Nur wenige sprechen über Deutschland wie Beate Siegel, die noch immer eine besondere Beziehung zu München hat, obwohl ihre Familie dort Schlimmes erleben mußte. Ihr Vater, Michael Siegel, ist der Mann auf einem berühmten Foto, das um die Welt ging. Der Rechtsanwalt hatte nach der Verhaftung eines Freundes der Familie, dem jüdischen Kaufhausbesitzer Max Uhlfelder, einen Irrtum vermutet und war zur Polizei gegangen. Dort wurde er verprügelt und mußte ein Plakat schreiben, "Ich bin Jude, aber ich will mich nicht über die Nazis beschweren", daß er dann ohne Schuhe und mit abgeschnittenen Hosen durch die Innenstadt Münchens tragen mußte.


Beate Siegel (rechts) kurz vor ihrer
Abfahrt am 27. Juni 1939

Auch Beate Siegel kam mit einem Kindertransport nach London, ihre Eltern konnten nach Peru flüchten. Heute sagt sie von sich, sie habe zwei Heimaten, London und München: "Ich liebe München; den Geruch von Bier und Weißwürstl, die dicken Kastanien in den Biergärten, die vertrauten Geräusche auf dem Viktualienmarkt - das spür ich immer noch im Bauch, wenn ich mal da bin. Und wenn ich heute in London jemanden bayerisch sprechen hör, also dem kann ich bis ans Ende von London nachlaufen! Das berührt mich irgendwie innerlich, die Sprache. - You know, I was a Münchner Kindl!"

"Ich wollte nicht nach England. 
Ich wollte in den Zoo."

Anja Salewsky erzählt insgesamt die Geschichte von 11 Kindern. Besonders bewegt hat mich persönlich das Schicksal von Ruth Rubinstein, das ich kurz nachzeichnen möchte. Ruth kam im Alter von vier Jahren gemeinsam mit ihrem älteren Bruder nach England. Sie konnte sich kaum noch an ihre leibliche Mutter erinnern, nur flüchtige Erinnerungssplitter an Umarmungen blieben ihr erhalten.

Die Kinder kamen bei einer englischen Pflegefamilie unter und Ruth wurde von schrecklichen Schuldgefühlen gequält, da sie dachte, daß ihre Mutter sie nicht mehr sehen wollte und sie verstoßen hatte. Die Kinder wurden von einer strengen Gouvernante betreut und Ruth ertrug bald den seelischen Druck nicht mehr, machte dann jede Nacht ins Bett und wurde von der Pflegemutter zur Strafe jeden Morgen mit einem Lederriemen verprügelt. Nach einem Jahr wurden die beiden Geschwister dann in ein Internat geschickt, wo Ruth erleichtert feststellen konnte, daß hier alle Kinder ins Bett machte ohne bestraft zu werden.

Ihre Mutter erklärte sie für sich und anderen gegenüber für tot, heute kann sie es sich so erklären, daß das ein Selbstschutzmechanismus war: "Denn der Gedanke, dass die eigene Mutter mich nicht mehr wollte und im Stich gelassen hatte, war unerträglich. Sie für tot zu erklären, löste das Problem."

Nach zwei Jahren mußten die beiden das Internat verlassen, da der Pflegevater schwer krank wurde und nicht mehr für ihren Unterhalt aufkommen konnte. Die Kinder kamen daraufhin in ein Heim in London Richmond, glücklicherweise fand sich jedoch bald eine neue Familie, in der sich beide Geschwister zunächst sehr wohl fühlen. Ruths Bruder Martin bastelte viel mit Elektroteilen und baute sich ein eigenes Radio, damit er einen deutschen Sender hören konnte. Der Pflegevater erwischte ihn dabei und zeigte ihn bei der Polizei an, als deutschen Spion. Erst durch Hinzuziehen eines Psychologen, der Martin schweres Heimweh bescheinigte, entließ man ihn.

Das Haus der Pflegeltern lag direkt in der Fluglinie der V1-Bomben, die jede Nacht über das Haus flogen. Für Ruth war das nicht schlimm, doch Martin wurde "fast irr vor Angst". Also kamen die beiden wieder eine neue Familie, die auf einem abgelegenen Bauernhof lebten. Dort kam Martin schließlich etwas zur Ruhe und Ruth, die zuerst nicht wieder in eine neue Umgebung wollte, war begeistert von den vielen Tieren auf dem Hof. Martin bekam schließlich ein Stipendium der Universität Cambridge und Ruth fühlte sich so zu Hause, daß die Pflegeeltern über eine Adoption nachdachten.

"Doch dann kam der Brief, der alles veränderte. Ein Brief von meiner leiblichen Mutter! Zehn Jahre nach unserem Abschied. Ich traute meinen Augen kaum. Dort stand, dass sie kommen würde, um mich zurückzuholen - zurück nach Deutschland! Ich schrie und tobte und rannte in den Stall zu den Pferden. Ich wollte nicht, dass meine Mutter von den Toten aufersteht. Und dass wieder alles über Nacht zerstört wird."

Das Wiedersehen wurde zur Katastrophe, Ruth weigerte sich, deutsch zu sprechen und sich von der Mutter umarmen zu lassen. Die Mutter kehrte alleine nach Hause zurück. Kurz darauf kam eine gerichtliche Anordnung, daß die Pflegemutter die Kinder umgehend nach Deutschland zurückbringen müsse. Mit 14 Jahren war Ruth dann zurück in Mainz und fühlte sich erneut wie in einer fremden Welt mit einer fremden Sprache.

Beide Eltern hatten sich durch den Krieg stark verändert, die Mutter litt unter ständigen Schmerzen. Aber Ruth hat nie nach dem Erlebten gefragt, beständiges Schweigen zwischen Mutter und Tochter breitete sich aus. Nach einigen Monaten resignierten die Eltern, Ruth durfte wieder nach England, ließ sich zum Abschied noch immer nicht umarmen. Aber auch bei den Pflegeeltern fühlte sie sich nicht mehr richtig zu Hause.

Sieben Jahre später faßte Ruth noch einmal den Entschluß, einen Neuanfang mit den Eltern in Deutschland zu versuchen, doch auch dieser Anlauf scheiterte und sie fuhr endgültig wieder nach London.

Heute arbeitet sie als Psychoanalytikerin in London und arbeitet mit Menschen, die durch den Holocaust traumatisiert sind. "Heute weiß ich, daß meine Mutter mich gerettet hat. Zweifellos hat sie mich sehr geliebt. Und trotzdem konnte ich nie wirklich zu ihr zurückkehren. Das werde ich immer mit mir herumtragen - bis ans Ende meines Lebens."

Die Entstehung des Buches

Anja Salewsky studierte Slawistik, Germanistik und Ethnologie. Seit fünf Jahren arbeitet sie als Journalistin beim Bayerischen Rundfunk und widmet sich in ihrer Berichterstattung schwerpunktmäßig jüdischen Themen. Ihr Stundenfeature "Once I was a Münchner Kindl" fand im Herbst 1999 begeisterte Resonanz, so daß sich die Autorin entschloß, das einzigartige Material, das sie auf ihren Recherchereisen in England erhalten hatte, zu dem vorliegenden Buch zu verarbeiten. Zur Freude der Leser, denn Ergebnis ist eine bewegende, aber nicht sentimentale Lektüre, die den Holocaust aus einem völlig anderen Blickwinkel zeigt.

Es war nicht einfach, den Kontakt zu den ehemaligen Kindern herzustellen, erzählt Anja Salewsky. Nach vielen Telefonaten gelang es ihr, Eva Haas, die inzwischen wieder in Deutschland lebt, zu treffen. Sie war das kleine Mädchen, das trotzig aus dem Zugfenster geschrieen hatte. Von ihr erfuhr sie von einem Treffen der damals Geretteten in England. Über 1300 ehemaligen "Kinder" trafen sich in London auf einer sogenannten "Reunion of the Kindertransport". Hier konnte Anja Salewsky viele Kontakte knüpfen und Interviews führen. Im Anschluß fuhr sie noch dreimal zur Recherche nach England.

Besonders wichtig ist Anja Salewskys Buch auch deswegen, weil es eine einzigartige Sammlung von Briefen, Fotographien und Dokumenten zeigt, die die Interviewpartner der Autorin überlassen haben. Vieles davon stammt aus privaten Fotoalben und wurde bisher noch nie veröffentlicht.

"Es sind wahre Schätze, und ich bin sehr dankbar für das große Vertrauen, das mir entgegengebracht wurde", betont die Autorin. "Sonst wäre das Buch in dieser Form nie entstanden. Als ich bei einer alten Dame vor einem besonders schönen Foto ihrer Geschwister stand, das gerahmt über ihrem Bett hing, nahm sie es von der Wand. "Schreiben Sie meine Geschichte auf - ich spüre, dass ich nicht mehr lange leben werde!" - mit diesen Worten drückte sie mir das Foto in die Hand, zusammen mit den letzten Briefen ihrer Mutter, die von den Nazis ermordet worden war."

Andrea Übelhack
 
Anja Salewsky:
"Der olle Hitler soll sterben!"
Erinnerungen an den jüdischen
Kindertransport nach England

Claasen Verlag 2001
ISBN: 3546002717

haGalil onLine 15-05-2001

 


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