
Siegfried Tisch:
Triumph im
Exil
Von Frank
Schubert
Der Fall
Siegfried Tisch zeigt: Die Nazis begnügten sich nicht mit der so
genannten Arisierung materieller Güter, auch auf das geistige Eigentum
jüdischer Künstler hatten sie es abgesehen
Wenige Monate vor Beginn des
Zweiten Weltkriegs hatte in Berlin eine Operette mit dem unbeabsichtigt
passenden Titel "Lüg nicht, Baby" Premiere. Obwohl die Handlung in
Schottland angesiedelt war, wurde darin unter anderem ein Loblied auf
die Ehe mit Frauen "von Rasse" vorgetragen. Auch ansonsten hatte man das
Stück stramm auf NS-Gesinnung getrimmt. Das war wohl nötig, handelte es
sich doch um ein Plagiat der Operette "Warum lügst du, Chérie?" aus dem
Jahr 1936, verfasst von den jüdischen Wiener Librettisten Siegfried
Tisch und Hans J. Lengsfelder.
Als die arisierte Version ihres
Lustspiels "uraufgeführt" wurde, hatte Siegfried (eigentlich Salo) Tisch
- gezeichnet von acht Monaten im KZ und einer kaum überstanden
Typhuserkrankung - gerade seine spätere Ehefrau Ilse in London kennen
gelernt, wohin er erst drei Tage zuvor emigriert war. Ihrer beider
Lebensgeschichte erzählt Barbara Esser, Großcousine von Ilse Tysh, in
ihrem Buch "Sag beim Abschied leise Servus" (Wien 2002, Kremayr &
Scheriau, 356 Seiten, 22,90 Euro).
Mit diesem Lied für den Film
"Burgtheater" hatte 1934 die Zusammenarbeit von Tisch und Lengsfelder
begonnen. Gesungen von Hans Moser, wurde es zu einem der bekanntesten
Lieder der Zwischenkriegszeit und in 26 Sprachen übersetzt. Allein, nur
drei Personen wussten, dass der Text von Tisch und Lengsfelder stammte:
sie selbst und ein entfernter Bekannter namens Harry Hilm, der ihnen als
Strohmann diente.
Denn bereits vor dem "Anschluss"
Österreichs hatten die dortigen Filmproduzenten die Forderung der
deutschen Reichsfilmkammer akzeptiert, Manuskripte und Besetzungslisten
vorab beim Reichsfilmdramaturgen einzureichen. Dadurch erhielten sie
sich den wichtigen deutschen Absatzmarkt, stimmten aber de facto einem
Arbeitsverbot für jüdische und oppositionelle Künstler in der
Filmindustrie zu. Im "Reich" hatte Propagandaminister Goebbels im März
1934 eine Verordnung erlassen, nach der alle öffentlich auftretenden
Künstler einer Fachschaft angehören mussten, die nur Ariern offen stand.
Kurz: Die Kunst sollte "entjudet" werden.
Lengsfelder und Tisch konnten den
Nazis mit "Sag zum Abschied leise Servus" ein Schnippchen schlagen,
indem sie den Nichtjuden Harry Hilm als Autor des Textes ausgaben. Doch
es war kein wirklicher Triumph. In gewisser Weise beteiligten sie sich
ja selbst - wenn auch gezwungenermaßen - an der Arisierung ihres
geistigen Eigentums. Bis heute gibt es keinen schriftlichen Beweis für
Tischs Mitwirkung an dem weltberühmten Wienerlied.
Anders als sein Partner
Lengsfelder, der einen tschechischen Pass besaß und ungehindert aus
Östererich ausreisen konnte, hatte Tisch die Flucht vor den Nazis nicht
mehr rechtzeitig geschafft. Visa für sich und seine Eltern waren schwer
zu bekommen und kosteten Geld, gleichzeitig plünderten die Nazis mit
"Reichsfluchtsteuern" und "Sühneabgaben" die ausreisewilligen Juden aus.
Und wovon sollte er, Siegfried Tisch, Doktor der österreichischen
Rechtswissenschaft und Dichter deutschsprachiger Texte, im Ausland
leben? Also belegte der 33-Jährige wenige Tage nach dem Einmarsch
deutscher Truppen im März 1938 einen Barmixerlehrgang und schrieb sich
an einer Kochschule für einen sechswöchigen "Spezial-Konditorkurs" ein.
Denn: "Das Einzige, wofür sich die Wiener nicht schämen mussten zu
dieser Zeit, waren ihre Torten."
Nur zwei Jahre zuvor hatten Tisch
und Lengsfelder das Publikum mit insgesamt sechs Operetten im Sturm
erobert. "Warum lügst du, Chérie?" brachte es in mehreren europäischen
Städten auf über fünftausend Aufführungen, in Wien selbst lief das Stück
über 150 Mal. Als in Berlin bereits das Horst-Wessel-Lied den Takt
bestimmte, genossen die Wiener immer noch die kulturelle Vielfalt ihrer
Stadt. "Die Wiener verdrängen mit Vergnügen", sagte Siegfried Tisch.
"Keiner versteht sich darauf so gut wie sie."
Damit war es 1938 mit einem
Schlag vorbei. Über Nacht schlossen Opernhäuser, Theater- und
Kleinkunstbühnen. Österreichische Nationalsozialisten hatten bereits
schwarze Listen mit den Namen von bekannten oppositionellen Politikern,
Industriellen, Gewerkschaftern, Richtern und eben jüdischen Künstlern
vorbereitet. Nur zwei Wochen nach dem Einmarsch deutscher Truppen im
März wurden die ersten 150 Wiener Bürger verhaftet und ins
Konzentrationslager Dachau gebracht.
Siegfried Tisch war nicht bekannt
oder wichtig genug. Bei ihm standen die SA-Männer erst im Juni 1938 vor
der Tür. Ein Visum hatte er immer noch nicht auftreiben können. Zwar
versuchte sein Bruder Mundy (Moishe), der bereits in London wohnte, die
Familie nachzuholen. Aber England machte mittellosen Juden ohne
besondere Qualifikationen die Einreise zu diesem Zeitpunkt alles andere
als leicht.
Der kurz zuvor noch gefeierte
Dichter wurde nach Dachau deportiert, erhielt dort die Häftlingsnummer
16866. Sein Vater setzte alle Hebel in Bewegung, um seinen Sohn wieder
aus dem Lager zu holen. Mundy Tisch gelang es schließlich, in England
einen Bürgen aufzutreiben. Im Oktober 1938 sollte Siegfried entlassen
werden, doch bevor die Entlassungspapiere eintrafen, wurde er zusammen
mit 1.200 anderen Juden nach Buchenwald verlegt. "Verglichen mit
Buchenwald war Dachau ein Paradies", sagte Tisch später. Der schmächtige
Mann musste im Steinbruch arbeiten, Hunger und stundenlange Zählappelle
im strömenden Regen erdulden. Selbst im KZ ging es mit dem Diebstahl
geistigen Eigentums weiter. Der Lagerkommandant wünschte sich Ende 1938
ein Lagerlied. Auch Tisch versuchte sich daran, fand jedoch keine Worte.
Schließlich schrieb der jüdische Librettist Fritz Löhner-Beda den Text.
Als Autor musste aber ein Nichtjude angegeben werden, denn auch hier
galt das Nazidogma von der "entjudeten" Musik. Trotzdem nahmen die
Häftlinge das Lied als ihre Hymne an, denn die Verse "O Buchenwald, ich
kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist. Wer dich
verließ, der kann es erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist!"
gaben ihnen ein wenig Mut.
Einner der wenigen, für den diese
Hoffnung wahr wurde, war Siegfried Tisch, der im Januar 1939 entlassen
wurde. Die in den Novemberpogromen sichtbar gewordene Brutalität der
Nazis gegen die Juden hatten endlich das Ausland aufgeschreckt. Viele
Länder lockerten ihre Einreisebestimmungen. Mundy beschaffte seinem
Bruder ein Visum für die Dominikanische Republik. Zu diesem Zeitpunkt
hatte Siegfried sich bereits mit Typhus infiziert. Möglicherweise
verdankt er sein Überleben nicht nur dem Visum, sondern auch der Angst
der Lagerverwalter vor dem Ausbruch einer Epidemie.
Bevor er nach England
weiterreisen konnte, musste Tisch noch die tödliche Krankheit
überwinden. Erst im Mai war er in der Lage, Wien zu verlassen. In London
arbeitete Fred S. Tysh, wie er sich nun nannte, als Buchhalter in der
Textilfirma seines Bruders. Der Dichtkunst hatte er jedoch nicht
abgeschworen. Mit einem Wörterbuch und einer Taschenlampe gerüstet ging
er so oft wie möglich ins Theater und ins Kino, brachte sich auf diese
Weise Englisch bei. Ein halbes Jahr nach seiner Ankunft auf der Insel
landete er mit dem Lied "Seven Sisters Live In The Seven Sisters Road"
den ersten Hit in der neuen Heimat.
1942 textete Tisch für die
Operette "Old Chelsea" des Startenors Richard Tauber acht Lieder. Auch
der "Mann mit dem Gold in der Kehle" hatte als Halbjude 1938 nach London
emigrieren müssen und besaß seit 1940 die britische Staatsbürgerschaft.
Tauber trat fast siebenhundert Mal mit "Old Chelsea" auf, für Tisch
flossen Tantiemen und Anschlussaufträge. Eines seiner Lieder für die
Operette "My Heart And I" wurde monatelang im Radio gespielt. 1945
schrieb er das Libretto für die Operette "Can Can", die ebenfalls sehr
erfolgreich lief. Im Gegensatz zu vielen anderen Wortkünstlern bereitete
Tisch der Sprachwechsel keine Probleme. So gelang es ihm, an seine
Wiener Erfolgszeit anzuknüpfen, die durch den "Anschluss" Österreichs so
plötzlich geendet hatte. Wenigstens auf diese Weise triumphierte er über
die Nazis.
Nach Österreich und Deutschland
kehrte er nie wieder zurück. Selbst als er 1959 zur Wiederaufführung von
"Warum lügst du, Chérie?" nach Wien eingeladen wurde, lehnte er ab.
Österreich blieb für ihn das "Land der Mörder". Seinen Eltern war es
nicht gelungen, aus Österreich zu fliehen. Ende 1941 wurden sie von den
Nazis nach Litauen gebracht und dort ermordet.
FRANK
SCHUBERT, 23, studiert in Leipzig Journalistik und Politik
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hagalil.com / 14-07-2002 |