
Das Konzentrationslager
Nohra:
Die Spur nach Buchenwald
Vor siebzig Jahren
errichteten die Nazis im thüringischen Nohra das erste
Konzentrationslager in Deutschland. In dem Dorf erinnert heute
nichts mehr an den Vorläufer von Buchenwald
Von Katrin Zeiss
Nohra kennen Autofahrer aus den
Staumeldungen. Autobahnabfahrt der A 4, drei Kilometer westlich von
Weimar, vierhundert Einwohner, ein paar Handwerksbetriebe, eine
sorgsam restaurierte Dorfkirche. Im neuen Gewerbepark ein großer
Schlachthof, auf der anderen Seite der B 7 ein weiträumiger
Militärflugplatz, der bis auf ein Heim für Spätaussiedler jetzt
brachliegt. Wie ein Finger ragt in der Ferne ein Turm in die Höhe -
der Glockenturm des KZ Buchenwald, gelegen auf dem Ettersberg bei
Weimar. In die Gedenkstätte Buchenwald kommen jährlich über eine
halbe Million Besucher. In Nohra hält höchstens, wen es auf der
Autofahrt zwischen Weimar und Erfurt nach einem Imbiss gelüstet.
Kein Gedanke, kein Zeichen, dass es hier noch vor Buchenwald ein
Konzentrationslager gab.
Vor siebzig Jahren, am 3. März 1933,
schreibt der KPD-Landtagsabgeordnete Fritz Gäbler aus Gera vom
Flugplatz Nohra aus einen Brief an das Büro des Thüringer Landtags
in Weimar. Man solle die an ihn bestimmte Post nunmehr an seine Frau
Marta nach Gera schicken: "Da ich jetzt in Schutzhaft bin." Gäblers
in Sütterlinschrift aufs Papier gekritzelte Nachricht dokumentiert
die Gründung des Konzentrationslagers Nohra, das in der NS-Forschung
nicht nur als eines der Vorläuferlager des KZ Buchenwald gilt. Es
ist das erste Konzentrationslager im NS-Staat überhaupt. Es bestand
zehn Wochen lang.
Am
27. Februar 1933, vier Tage bevor Fritz Gäbler nach Nohra gebracht
wird, brennt in Berlin der Reichstag - der Auftakt zur skrupellosen
Jagd auf Regimegegner durch die Hitlerregierung, die gerade vier
Wochen im Amt ist. In Thüringen sitzen die Nazis schon länger fest
im Sattel. Ab 1930 zunächst in einer Koalitionsregierung, stellt die
NSDAP nach den Landtagswahlen 1932 die Landesregierung mit dem
später als Kriegsverbrecher verurteilten und hingerichteten Fritz
Sauckel an der Spitze. Noch vor den letzten Reichstagswahlen am 5.
März 1933 ordnet das ebenfalls von Sauckel geführte Innenministerium
an, die verhafteten Kommunisten nach Nohra auf den im Ersten
Weltkrieg gebauten, aber seitdem nicht genutzten Flugplatz zu
schaffen.
"Schon am 3. März 1933 werden
nachweislich hundert Häftlinge in Nohra festgehalten", hat Udo
Wohlfeld von der Geschichtswerkstatt Weimar/Apolda recherchiert.
Einen Tag später sind es bereits 170. Thüringer Tageszeitungen
berichten ganz offiziell von einem Sammellager für verhaftete
KPD-Führer in der Heimatschule Nohra. Die "Heimatschule
Mitteldeutschland", eine stramm völkisch und paramilitärisch
ausgerichtete Vereinigung, hat sich damals auf einem Teil des
Geländes eingemietet. Sie betreibt dort ein Arbeitsdienstlager für
Jugendliche und drillt die jungen Leute militärisch, Motto: "Deutsch
sein heißt treu sein". Aus Mangel an Polizisten, die das Lager
bewachen können, ernennt Sauckel die Führungskräfte der Heimatschule
kurzerhand zu Hilfspolizisten. Zehn Tage nach der Eröffnung des
Lagers ist dessen Kapazität erschöpft - zweihundert Häftlinge
drängen sich in drei nur mit Stroh und Decken ausgestatteten Sälen.
Sie kommen zumeist direkt aus den überfüllten Thüringer
Gefängnissen.
Als das KZ Nohra am 10. Mai 1933 wieder
aufgelöst wird - Fliegerverbände hatten ein Auge auf den vor den
Toren Weimars gelegenen Flugplatz geworfen -, befinden sich noch
knapp vierzig Häftlinge im Lager. Sie werden in das Gefängnis
Ichtershausen und zum Teil später in andere KZ überstellt. Von den
kleinen, so genannten wilden KZ der ersten Wochen nach dem
Reichstagsbrand gehen die Nazis nunmehr zur offenen Abschreckung von
Regimegegnern durch ein ausgeklügeltes Terrorsystem über. "Sie
begannen, systematisch ein ganzes Netz von großen
Konzentrationslagern zu errichten", erläutert Volkhard Knigge,
Direktor der Gedenkstätte Buchenwald. Das erste große KZ unter
SS-Regie entsteht am 21. März 1933 in Dachau bei München - der
"Prototyp" der nationalsozialistischen KZ mit elektrisch geladenem
Stacheldrahtzaun, SS-Bewachung, Folter und brutaler Zwangsarbeit.
Nachfolger des KZ Nohra wird zunächst
das dreißig Kilometer entfernte KZ Bad Sulza - bis 1937. In Bad
Sulza, einer beschaulichen kleinen Kurstadt mit sprudelnden
Solequellen und Weinbergen ringsum, funktionieren die Nazis ein
ehemaliges Sanatorium in ein KZ um. Von November 1933 bis 1937
werden hier vermutlich fast tausend Häftlinge festgehalten, die im
Steinbruch und beim Straßenbau arbeiten müssen. Wie Nohra untersteht
das KZ Bad Sulza zunächst dem Thüringer Innenministerium, später
bewachen es SS-Mannschaften. Dann - im Juli 1937 - kommt Buchenwald,
dessen Bau Sauckel übrigens erst zustimmt, als klar ist, dass es von
der SS übernommen wird - und damit nicht vom "Gau Thüringen"
finanziert werden muss. Das KZ Buchenwald mit erhaltenem
Stacheldrahtzaun, Arrestzellen, Krematorium und der berüchtigten
zynischen Inschrift "Jedem das Seine" am Lagertor ist heute eine
große Gedenkstätte.
Vom
KZ Nohra ist nur ein einziges Überbleibsel erhalten: Die ehemalige
Kommandantenvilla der "Heimatschule", hellgelb getüncht und - ein
Gasthaus. Vom Parkplatzschild herab lächelt ein Husarenverschnitt
mit federbuschbewehrtem Dreispitz, die Speisekarte hat Wirtin Elke
Simonsen mit der Zeichnung eines Manns in Pilotenkluft dekoriert.
"Ich wollte was Neutrales." Etwas, was zum Namen passe. Das Gasthaus
direkt an der B 7 heißt "Zum Kommandanten". Kleiner Gastraum, hell
möbliert, von den Eingangsstufen fällt der Blick auf den Glockenturm
von Buchenwald. Was da oben passiert ist, mag sich die Wirtin lieber
nicht ausmalen. "Es muss furchtbar gewesen sein."
Dass just ihr eigenes Wirtshaus zur
Vorgeschichte von Buchenwald gehört, ist Elke Simonsen neu. Von
einem KZ im Zusammenhang mit Nohra, mit der Villa hat sie nie etwas
gehört. An den Wänden hängen Fotos sowjetischer Kampfhubschrauber.
Diese Vergangenheit ist geläufiger in Nohra: Jahrzehntelang war das
Gelände Militärstützpunkt der sowjetischen Besatzungstruppen und wie
die Villa, in der Elke Simonsen heute Schnitzel mit Pommes und
Thüringer Klöße serviert, für die Einwohner des Ortes tabu.
Sperrzone auch für die Erinnerung.
Wahrscheinlich hing deshalb auch keine
Gedenktafel für das KZ an der Kommandantenvilla. Sondern einen
Steinwurf entfernt am Konsum, mitten an der Ortsdurchfahrt, für
jeden zu sehen. Angebracht 1988; es geht die Legende, eines Tages
seien SED-Funktionäre aus dem nahen Weimar nach Nohra gekommen,
hätten die Tafel angeschraubt und seien wieder verschwunden. Die
Inschrift im typischen DDR-Stil: "In dieser Gemeinde haben die
imperialistischen Machthaber im März 1933 das erste faschistische
Konzentrationslager in Thüringen errichtet." Die letzte
Vor-Wende-Bürgermeisterin mit SED-Parteibuch habe sie anbringen
lassen, hat der heutige Bürgermeister Andreas Schiller gehört.
"Jedenfalls haben sich die Nohraer vor Staunen die Augen gerieben",
erzählt Udo Wohlfeld.
Nicht nur das. Über diese Inschrift,
erinnert sich Gerhard Kirst, der erste Nach-Wende-Bürgermeister in
Nohra, hätten sich einige im Ort regelrecht aufgeregt - in einer
Zeit, in der überall in der früheren DDR auf einmal die Namen von
Naziopfern auf Straßenschildern und an Denkmälern nicht mehr gut
gelitten waren. Die KZ-Gedenktafel hat der Mann mit dem
FDP-Parteibuch als eine seiner ersten Amtshandlungen wieder abnehmen
lassen. Die Nohraer müssten sich schließlich nicht als "die Erfinder
des KZ und die größten Nazis" verunglimpfen lassen, findet der
62-Jährige, der heute arbeitslos ist. Was solle denn das für einen
Eindruck auf die Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion
machen, die heute im Aussiedlerheim auf dem Flugplatz leben?
"Außerdem - Mord und Totschlag kanns da in dem Lager nicht gegeben
haben", sagt Kirst im Brustton der Überzeugung. "Die wirklich
schlimmen Dinge sind doch nicht hier passiert, das hier war kein
Auschwitz." Die Tafel, eigentlich selbst schon ein Zeitdokument,
steht jetzt unversehrt auf dem Dachboden des Gemeindeamts. Kirst
findet das ganz in Ordnung. "Also, an meinem Haus hätte ich die
Tafel jedenfalls nicht haben wollen."
Ein
KZ, von dem niemand weiß und niemand wissen will. Ein Menschenalter
ist darüber hinweggegangen, die Generation der damals
Zwanzigjährigen entweder tot oder erst nach Kriegsende als
Flüchtlinge ins Thüringische gekommen. Heutige Großeltern sind schon
zu jung, um die Ereignisse noch selbst bewusst erlebt zu haben. Wie
Erich Grenzel, Jahrgang 1925 und in Nohra aufgewachsen. Auch er hat
staunend und kopfschüttelnd vor der Gedenktafel gestanden. Als das
KZ Nohra eingerichtet wurde, war er acht Jahre alt. Buchenwald kennt
Erich Grenzel natürlich, er hat das SS-Kommando Buchenwald bei
Hitleraufmärschen in Weimar mit hochgerissenem rechtem Arm
strammstehen sehen, und er weiß auch, wie die salopp-verharmlosende
Umschreibung für Buchenwald damals lautete. "'Konzert-lager' haben
die Leute damals gesagt."
Andreas Schiller ist 35 Jahre jünger als
Grenzel, zugezogen und seit 1999 ehrenamtlicher Bürgermeister von
Nohra. Zuvor saß der Bauingenieur und Experte für Stadtplanung für
die Grünen im Kreistag, Bürgermeister ist er für die Freien Wähler
geworden. Schiller holt sich die Dorfjungen in die Jugendfeuerwehr,
"damit die was Sinnvolles machen, selbstständig denken lernen und
nicht bei den Skins landen". Als die Geschichtswerkstatt vor fast
drei Jahren ein Buch über das KZ Nohra veröffentlichte, hat er es
sich besorgt. Schiller versucht, die von ehemaligen Häftlingen
angefertigten Geländeskizzen in das Brachland von heute einzuordnen.
"Man hat einfach keine Vorstellung davon." Obenauf in den Ordner mit
der Dorfchronik, einem Sammelsurium aus gelben Karteikarten und
maschinegeschriebenen Blättern, hat er ein paar Seiten mit schlecht
abgezogenen Fotokopien gelegt. Der Flugplatz und die "Heimatschule"
sind unschwer auszumachen. "Ich werde immer mal gefragt", sagt er.
"Eigentlich nur nach dem Flugplatz", fügt er nachdenklich hinzu.
Schiller, die Kontroverse um die Gedenktafel noch im Hinterkopf, ist
sich nicht sicher, was er seinen Gemeinderäten an Wissen über das
KZ, an Erinnerung, an Gedenken zumuten kann. "Aber irgendwas müsste
man schon machen."
Dass mittlerweile überhaupt Details über
das KZ Nohra aufgetaucht sind, ist hauptsächlich der Arbeit der
Geschichtswerkstatt Weimar/Apolda zu verdanken. Sie hat gemeinsam
mit Wissenschaftlern der Gedenkstätte Buchenwald die Geschichte der
Vorläuferlager von Buchenwald untersucht, akribisch vorhandene
Unterlagen wie Polizeiakten, Einlieferungs- und Entlassungsscheine
oder Verpflegungsabrechnungen durchforstet und eine Ausstellung
darüber zusammengestellt. Ein Anfang. Die Ausstellung wurde in den
vergangenen drei Jahren unter anderem in der Gedenkstätte Buchenwald
und im Glockenmuseum Apolda gezeigt. In Nohra selbst mangels
geeigneter Räume allerdings nicht.
Wie über Nohra liegen über die meisten
"wilden" Konzentrationslager bis heute keine oder nur spärliche
Erkenntnisse vor. "Die sind überall in Deutschland sehr schnell
beiseite geschoben worden", hat Volkhard Knigge erfahren. "Und die
DDR hatte für ihr Gedenken die großen Mahn- und Gedenkstätten wie
Buchenwald, Ravensbrück oder Sachsenhausen." Erinnerung als eine
Frage der Dimensionen.
In Nohra gab es keinen Stacheldraht,
keine Genickschussanlage, keinen Bunker und keinen Wachturm, keine
Märtyrer. Es gab den Flugplatz. Hinter dem Flugplatz, dort, wo das
wellige Gelände im Dunst zu verschwimmen scheint, erhebt sich der
Ettersberg, auf dem einst Goethe wanderte und auf dem sich später
die Kolonnen der Buchenwald-Häftlinge entlangschleppten. Der
mahnende Glockenturm von Buchenwald ist weithin zu sehen.
Katrin Zeiss, 41, lebt als
freie Journalistin im thüringischen Apolda
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26-02-03 |